Rezension

Genauso beeindruckend wie das Debüt

Jägerin und Sammlerin - Lana Lux

Jägerin und Sammlerin
von Lana Lux

Bewertet mit 5 Sternen

Viel zu beschäftigt für die andere

„Ich weiß nicht mehr, was real ist. Alles ist irreal. Alles ist real. Ich verstehe die Welt überhaupt nicht, oder ich bin ganz nah dran, sie voll und ganz zu verstehen. Ich schwanke zwischen diesen Zuständen.“

Inhalt

Alisa ist intelligent, obwohl sie die Schule schwänzt, Alisa ist jung, obwohl sie die Last eines ganzen Lebens auf ihren Schultern trägt, Alisa ist verzweifelt, weil ihre Krankheit ihr den letzten Nerv raubt und sie sich den Fressattacken mit anschließendem Erbrechen doch nicht widersetzen kann. Alisa hat Bulimie und versucht irgendwie durch ihr Leben zu kommen, eine begonnene Therapie soll ihr helfen, sich und die Welt besser und echter wahrzunehmen, doch dabei muss sie leider feststellen, dass sie immer auf sich gestellt sein wird, wenn sie der Abwärtsspirale entkommen möchte.

 Tanya, Alisas Mutter ist eine Kämpferin, sie hat sich in ihrem Leben nicht von widrigen Umständen abhalten lassen, ist durchaus den Weg mit Widerstand gegangen, immer auf der Suche nach dem Lebensglück und einem Partner, der ihr Halt bietet, den sie in sich selbst nicht findet. Die große Lücke, die bleibt, als sie einsehen muss, dass sie ihre einzige Tochter verloren hat, füllt sie zunächst mit Alkohol und später mit einer Innenschau, die zeigt, wie labil auch ihr eigenes Nervenkostüm ist. Wer kann Urvertrauen bieten, wenn er selbst keins besitzt? Beide sind viel zu beschäftigt für die Sorgen und Nöte der anderen und so schleicht sich immer mehr Distanz in eine traurige Mutter-Tochter-Beziehung ein, die letztlich zwei Menschen alleine dastehen lässt, obwohl sie sich irgendwo im Inneren doch wichtig sind …

Meinung

Bereits im Jahr 2017 habe ich den Debütroman „Kukolka“ von der ukrainischen Autorin Lana Lux mit viel Lesefreude und nachhaltiger Begeisterung gelesen, so dass ich ihr neuestes Werk natürlich auch kennenlernen musste. 

Gerade die Thematik einer Essstörung, mit der ich persönliche Erfahrungen im Bekanntenkreis habe, lag mir dabei am Herzen, aber auch die Ausführung, warum Menschen, denen es eigentlich gar nicht so schlecht geht, an einer so zerstörerischen, nachhaltigen und lebensverändernden Erkrankung leiden und wie sie dort überhaupt hineingeraten sind. Und beide Punkte werden ausführlich, intensiv und ganz konkret in diesem Roman beleuchtet, so dass mir gerade im ersten Teil des Buches die körperlichen Befindlichkeiten der Kranken so deutlich vor Augen standen, dass ich hin und wieder eine kleine Lesepause einlegen musste.

 Ich bin von dieser Erzählung nachhaltig beeindruckt, weil sie ohne irgendwelche Anklagen auskommt und sehr emotional aber dennoch sachlich die Eckpunkte einer absolut verkorksten Mutter-Tochter-Beziehung aufzeigt. Während Alisa sich einzig nach Anerkennung und Liebe sehnt, versucht Tanya das beste aus der Tochter herauszuholen, weil sie selbst niemanden hatte, der sie gefördert hat und tatsächlich glaubte, dass irgendwann mal etwas aus ihr werden könnte. Doch Alisa ist nicht wie Tanya – egal wie stark sie sich um Anerkennung bemüht, ihre Mutter sieht nur die Unzulänglichkeiten und Defizite, die es zu verbessern gilt, im Zentrum steht nicht die Liebe zu ihrer Tochter, sondern die Erziehung eines patenten, starken Menschen, der sehr genau um seine Schwächen weiß.

 Die Verstrickungen, die beide miteinander teilen, geben niemanden Genugtuung, immer bleibt zu wenig übrig, zu wenig Liebe, zu wenig Stolz, zu wenig Zuversicht, zu wenig Anerkennung. Erst eine Trennung der beiden Lebenspunkte Mutter und Tochter beruhigt die Lage, allerdings sind damit auch alle Möglichkeiten, die in einer intakten Beziehung stecken, versiegt. 

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen intensiven, empathischen Roman über eine labile bis nachteilig wirkende enge Bindung, die trotz einiger Möglichkeiten nie den gewünschten Erfolg erreicht. Die Schilderung der Umstände ist gleichermaßen akribisch wie generalistisch angelegt, durch die vielen Textpassagen in wörtlicher Rede, ist der Leser immer ganz nah dran an der jeweiligen Protagonistin und kann sowohl Verständnis für die eine als auch für die andere entwickeln. 

Es wird mit verschiedenen Zeitsprüngen gearbeitet, so dass einerseits die Verfehlungen der Vergangenheit sichtbar werden, andererseits auch die Sorgen der Gegenwart und die Ängste bezüglich der Zukunft. Gerade diese umfassende Betrachtung eines Sachverhalts, hat mir ausgesprochen gut gefallen. Wer persönliche Erfahrungen mit Essstörungen hat, muss hier manchmal innehalten und tief durchatmen, allerdings fördert der Text auch das Miterleben der Krankheit, die manchmal sogar als Freundin betrachtet wird (für psychisch gesunde Menschen eine absolut unglaubliche Vorstellung). 

Wer Romane mit Tiefgang und Unterhaltungswert schätzt und sich für die vielen Facetten menschlicher Belange interessiert, sollte unbedingt dieses Buch lesen. Für mich steht fest: Wenn Lana Lux den nächsten Roman veröffentlicht, greife ich ganz bewusst danach, weil ich mich von ihrer schriftstellerischen Sorgfalt und Intensität nun schon zweimal überzeugen konnte.