Rezension

Geniale Fortsetzung!

Vollendet - Die Rache - Neal Shusterman

Vollendet - Die Rache
von Neal Shusterman

Bewertet mit 5 Sternen

"Willst du den wahren Grund dafür wissen, warum das Umwandeln immer noch so erfolgreich ist, Miss Risa Ward? Nicht wegen der Körperteile, die wir für uns selbst wollen - sondern wegen der Dinge, die wir gewillst sind zu tun, um unsere Kinder zu retten." S. 229

Zum Inhalt

Das Abkommen, mit dem der Heartland-Krieg beendet wurde, hat die Welt verändert.
Unliebsame Jugendliche, die nicht dem Ideal oder der Norm entsprechen, die schwierig oder gewalttätig sind, können von den Eltern "umgewandelt" werden und damit besser dem Allgemeinwohl dienen. Das heißt nichts anderes, als dass ihr Körper freigegeben wird zur Organspende - und zwar von Kopf bis Fuß. Jedes Teil wird verwertet und an "bessere Menschen" weitergegeben, die dringend darauf angewiesen sind.

Doch das Blatt wendet sich. Schon lange beschränkt sich dieser Handel nicht mehr auf die Notwendigkeit, denn viele wittern ihre Chancen in diesem "Geschäft" und verkaufen besonders sportliche Muskeln, intelligente Teile des Gehirns oder eine besondere Augenfarbe - natürlich auch auf dem Schwarzmarkt.

In dieser erschreckenden Zukunftsversion begegnen wir den Jugendlichen Connor, Risa, Lev, Starkey und Cam. Jeder hat seine eigene Geschichte, seine eigene Vergangenheit - und sie alle sind miteinander verbunden ...

Connor, der von seinen Eltern zur Umwandlung freigegeben wurde, hat sich ungewollt den Namen "Flüchtling von Akron" gemacht
Lev, das Zehntopfer: der Klatscher, der nicht geklatscht hat
Risa, die sich trotz ihrer Liebe zu Connor auf einem anderen Weg wiederfindet
Starkey, der Storch, dessen Motivation nur aus Hass besteht
und Cam, das Opfer der Wissenschaft, ein Flickwerk, dessen Leben umstritten ist

Meine Meinung

Ich bin mit dem Buch etwas langsamer vorangekommen als sonst, was nicht daran lag, dass mir etwas gefehlt hätte - im Gegenteil. Auch im dritten Band der Reihe hat der Autor es geschafft, mich von der ersten Seite an zu fesseln. Der Schreibstil ist flüssig und scheint auf den ersten Blick schlicht, aber es schleichen sich immer wieder passende Metaphern ein die mich überraschen und mich zum lächeln oder grübeln bringen. Manche Szenen wirkten auch etwas kurz angebunden, was aber nicht gestört hat. Neal Shusterman hat eine gute Mischung geschaffen, mit der er das Thema sehr eindringlich in Szene gesetzt hat.

Der Hintergrund der Geschichte ist deutlich definiert, aber je mehr man in die Geschichte eintaucht und sich darauf einlässt, offenbart es eine vielschichtige Masse an Gefühlen und Gedanken, die mich schon bei den ersten Bänden länger beschäftigt haben. Organspende aus einer völlig neuen Sichtweise, die schockierend und erschreckend ist. Jugendliche, allein gelassen auf ihrem Weg, erwachsen zu werden und verzweifelte Eltern, die sich ihren eigenen Fehlern nicht stellen können. Aber das ist längst noch nicht alles.
Der Handel entwickelt eine ganz eigene Dynamik, die der Autor gekonnt mit "Werbeeinblendungen" aufzeigt, die er mitten im Text plaziert. Seit dem ersten Band kann man verfolgen, wie sich das Denken der Menschen ändert, die Akzeptanz und die Selbstverständlichkeit, dass Leben geopfert werden, um das Verlangen nach Perfektionismus zu unterstützen. Die Grenzen verschwimmen und wie immer beeinflussen die Mächtigen die Masse, die bereitwillig nach einfachen Lösungen greift.

"Widerlinge gibt´s in jedem Alter", sagt sie. "Ich weiß es. Ich hab mein Quantum kennengelernt. Man kann sie nicht alle umwandeln, denn wenn sie weg sind, nehmen andere ihren Platz ein." S. 225

Durch viele kleine, verstreute Hinweise und Randbemerkungen habe ich mich schnell wieder in der Geschichte zurecht gefunden.
Connor ist durch seine Vorgeschichte geprägt und hält an seinem Ziel und seinen Prinzipien fest, was unter den Umständen wirklich bewundernswert ist. Gerade in den kleinen Momenten spürt man seine Angst und Hilflosigkeit, die er unterdrücken muss - z. B. auch, wenn er an Risa denkt, die er sehr vermisst.
Connor und Lev folgen einem Hinweis, der mit dem Ursprung zusammenhängt, damit, wer die Umwandlung überhaupt erst möglich gemacht hat. Die beiden sind auf der Suche von Sonia. Die alte Frau hatte Connor damals in ihrem Keller versteckt, als er vor der Jugendpolizei geflüchtet ist und er hat den Verdacht, dass sich hinter ihrer ruppigen Fassade mehr verbirgt.
Risa muss ihren eigenen Weg finden und fühlt sich zusehends in ihrer Einsamkeit verloren. Die Erfahrung, die sie mit Cam gemacht hat, hat sie mehr beeinflusst, als sie sich selbst eingestehen will.
Cam, das Flickwerk, das Vorzeigemodell der Forschung hat seinen eigenen Willen entwickelt. Die Zwänge, die ihm durch seine Position auferlegt werden, fühlen sich für ihn an wie Fesseln und seine Liebe zu Risa macht ihn bereit, diese endlich abzustreifen. Mit ihm konnte ich auch sehr gut mitfühlen, obwohl seine Handlungen ihn oft in kein gutes Licht stellen, sind sie nachvollziehbar. Er steht sich selbst mit Fragen gegenüber, die wir uns nicht annähernd vorstellen können.

"Ja, er besteht aus den Besten und den Intelligentesten, aber das sind nur Teile. Was sagen die Teile in Wahrheit über das Ganze aus?" S. 131

Starkey hat durch seine Flucht vom Friedhof seine Machtposition stärken können. Seine Motivation ist geleitet durch den Hass und die Hilflosigkeit, die er erfahren musste und er schreckt vor nichts zurück, um seine Absichten durchzusetzen. Er entwickelt sich zu einem bewunderten Anführer, wobei ihm aber nicht bewusst wird, welche Auswirkungen seine Taten haben werden.

Durch die Perspektivenwechsel und die Gegenwartsform ist man immer nah am Geschehen. Jeder Charakter ist speziell bis in die kleinste Nebenfigur und der Autor schafft es mit wenigen Details, die Tiefgründigkeit präsent zu machen und kreiert mit Leichtigkeit ein lebendiges Bild.

Die kleinen Sticheleien des Autors an die Ignoranz der Gesellschaft wirft viele moralische Fragen auf. Das Abkommen hat das Leben der Menschen beeinflusst und verändert und der Druck, damit leben und sich arrangieren zu müssen, steigt in bedenklichem Maße.
Wie weit darf man mit der Forschung gehen und mit Menschen experimentieren? Wo ist die ethische Grenze? Welche Motivation bringt Menschen dazu, sich über diese hinweg zu setzen: das Gefühl, die Neugier zu befriedigen oder das "banale" Gefühl von Macht, von Schöpfung?
Welche Verantwortung hat man seinen Kindern gegenüber, was darf man fordern, was muss man respektieren. Wie schnell schlägt eine gut gemeinte Lösung um und wie schnell akzeptiert man eine verhängisvolle Entwicklung.
Grundlegende Fragen über das Leben und Miteinander in der Gesellschaft, die mich noch lange beschäftigen werden und aus denen sich ein grundlegender Zusammenhang kristallisiert: Kann man den Menschen als ganzes akzeptieren oder ist er wirklich nur ein Stückwerk aus Teilen?

Fazit

Auch im dritten Band lässt Neal Shusterman nicht nach. Der flüssige Schreibstil, die greifbaren Charaktere, das tiefgründige Thema, die durchdachte Logik, die subtile Dramatik, alles ist perfekt aufeinander abgestimmt und hat mich von der ersten Seite an gepackt. Jetzt heißt es wieder mit Spannung auf die Fortsetzung warten :)

© Aleshanee
Weltenwanderer