Rezension

Geographischer Grenzgang - psychologischer Grenzgang

Grenzgang - Stephan Thome

Grenzgang
von Stephan Thome

Bewertet mit 4.5 Sternen

"Und ich habe ein Gefühl, das mir selbst so fremd ist, dass ich gar nicht weiß, wie ich es sagen soll."

“Grenzgang” ist Stephan Thomes erfolgreicher Debütroman aus dem Jahr 2009, der es im selben Jahr auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte.

Zum Inhalt:
Kerstin Werner lebt mir ihrem Sohn und ihrer kranken Mutter in dem traditionsreichen Ort Bergenstadt, in dem alle sieben Jahre Grenzgang gefeiert wird. Verlassen von ihrem Mann hadert sie mit ihrer Beziehung zu ihrem Sohn, der Verantwortung für die kranke Mutter und ihrem immer stärker werdenden Gefühl der Machtlosigkeit in ihrem Leben: Verpasste Chancen, falsche Entscheidungen, der fehlende Mut für einen Umbruch. Thomas Weidmann, Lehrer an der Bergenstädter Schule, lässt sich durch sein Leben treiben – stets einen wehmütigen und sarkastischen Blick auf sein bisheriges Leben und die Entscheidungen, die er getroffen und nicht getroffen hat werfend. Beide Figuren erleben wir in verschiedenen Stationen ihres Lebens alle sieben Jahre am Grenzgang und erfahren wie sich beider Schicksale langsam berühren.

“Grenzgang” handelt von zwei Menschen auf der Suche nach Glück, Liebe und sich selbst. Dabei ist die Geschichte der zwei Protagonisten Kerstin Werner und Thomas Weidmann keineswegs kitschig. Stephan Thome ist ein Meister der einfühlsamen Darstellung von psychischen Seelenvorgängen im Menschen und erzählt hier die Geschichte zweier Menschen, die eine Vorstellung von Begriffen wie “Liebe”, “Ehe”, “Glück” usw. nicht aus dem Lexikon gelernt haben, sondern hyper-realistisch, empirisch erleben, erforschen und kritisch reflektieren. Thome schafft es das Leben von Menschen so realistisch, ungeschminkt und einfühlsam darzustellen, wie man es auch in der nackten Wirklichkeit ungeschönt findet. Es wird das Bild eines modernen Menschen gezeichnet, der gequält von Selbstkritik, Unsicherheit, Einsamkeit trotz Gesellschaft und dem Gefühl von Ungenügsamkeit immer im Zwiespalt mit seinen Träumen und Wünschen und der Realität steht. Der Roman wirft einige essentielle und existentielle Fragen auf: Muss in einer modernen Zeit, die einerseits geprägt ist von neuen Möglichkeiten zur Selbstentfaltung (wie beispielsweise die Anonymität des Internets als Medium der Partnersuche) und andererseits geprägt ist von unseren traditionellen Werte- und Normvorstellungen, unsere Definition von Liebe und Partnerschaft und dem was uns glücklich macht neu definiert werden? Muss der Mensch überhaupt permanent glücklich sein und versuchen das Bestmögliche aus seinem Leben zu machen?

"In diesem Moment schien es Weidmann möglich, sich selbst so weit auszudünnen, dass die Anflüge von Verzweiflung, denen er seit Monaten ausgesetzt war, einfach durch ihn hindurch und weiterziehen würden, wie der Wind durch das Tal. Aus Mangel an Widerstand. Aus Mangel an Beweisen, dass es für ihn noch etwas zu verlieren gab. Jahrelang hatte er versucht, mehr zu sein, als er war – wie wäre es einmal mit dem umgekehrten Versuch? [...] In Bergenstadt machte man nicht das Beste aus seinem Leben, und er mochte das. Die Welt war voller Leute, die an ihrem aufgeblasenen Ego hingen wie an einem Heißluftballon ohne Gondel: Zappelnd, grotesk, vom Absturz bedroht. [...] Wer brauchte das? Wer brauchte ihn?"

Thome zeigt mit welchen Hoffnungen die Figuren in die Zukunft blicken, was aus diesen Hoffnungen geworden ist und mit welchen Gefühlen sie nach all den Dingen, die passiert sind und die sie geprägt haben auf ihr vergangenes Leben zurückblicken. Im Zentrum stehen die Gefühle der Charaktere, die von Reue, Ohnmacht, Angst, Leere, Wut, Einsamkeit, “Exil des Glücks” bis hin zu Freude, Lust, Liebe reichen und allen Facetten dazwischen. Die Figuren erleben nicht nur einen geographischen Grenzgang, sondern auch einen psychischen. Nicht die Suche nach festen Antworten scheint wichtig, sondern vielmehr das Erörtern der eigenen Gefühle und die Suche nach einem Zuhause für das eigene Ich inmitten dieser Fülle.

"Die finale Antwort gibt es sowieso nicht, hat er früher seinen Studenten gesagt. Keine Formel, in die sich fassen ließe, was wir tun und warum. Es gibt nur die Suche und manchmal das Finden. Oft hat er das gesagt und würde in diesem Augenblick die Behauptung wagen, er habe Recht gehabt."

 

Mein Fazit für dieses Buch:
Vor einem Jahr habe ich bereits Stephan Thomes Werk “Fliehkräfte” (erschienen 2012 bei Suhrkamp) gelesen und bin seitdem ein großer Fan. Stephan Thome ist es gelungen einen spannenden, einfühlsamen und großen Roman mit “Grenzgang” zu schreiben, der den Leser in den Bann der Figuren zieht und einen selbst über existentielle Fragen des Glücklichseins nachdenken lässt. Ich kann jedem nur empfehlen, etwas von Thome zu lesen und sich auf seinen wunderbaren Erzählstil einzulassen. Für mich zählt er ab dieser Lektüre auf jeden Fall zu meinen Lieblingsautoren.
PS: Wie kürzlich bekannt gegeben wurde, dürfen wir schon Anfang 2015 mit seinem nächsten Roman “Gegenspiel” rechnen, bei dem wir uns auf ein Wiedersehen mit Hartmut Hainbach aus dem Roman “Fliehkräfte” freuen dürfen, denn “Gegenspiel” erzählt die Geschichte von dessen Frau Maria. Ich hoffe, dass ich in dem Zusammenhang vielleicht nächstes Jahr eine Rezension beider Bücher (“Fliehkräfte” und “Gegenspiel”) schreiben kann, um beide Geschichten miteinander zu verbinden und ein Ganzes zu schaffen.

PS: Falls euch diese Rezension gefallen hat, besucht doch mal meinen Blog: http://buecherlog.wordpress.com/