Rezension

Geschichte der Erforschung des Asperger-Syndroms und überfällige Rehabilitierung Hans Aspergers

Geniale Störung
von Steve Silberman

Bewertet mit 5 Sternen

Das Asperger-Syndrom als Variante des Autismus wird heute als angeborene Entwicklungsstörung definiert, bei der Betroffene erhebliche Probleme in der sozialen Interaktion haben, weil sie nonverbale Signale ihrer Mitmenschen nur schwer deuten können. Vereinfacht ausgedrückt können Menschen mit Asperger-Syndrom zugleich über herausragende Intelligenz und außergewöhnliche Talente auf Spezialgebieten verfügen und trotzdem im Alltag auf Hilfe angewiesen sein.

In den 90ern des vorigen Jahrhunderts schien die Zahl der Patienten rapide zuzunehmen, die mit Verdacht auf Asperger Psychiatern zur Begutachtung vorgestellt wurden. Silbermans Buch wurde mit der reichlich reißerischen Frage vermarktet, ob ein Cluster von Ingenieuren und Programmierern, wie es im Silicon Valley anzutreffen ist, unter den Kindern der IT-Spezialisten zu einer Zunahme dieser erblichen Entwicklungsstörung führen wird. Tatsächlich ist „NeuroTribes. The Legacy of Autism and the Future of Neurodiversity“ ein vorbildlich recherchiertes medizinhistorisches Werk, das die Frage aufwerfen sollte, welche Möglichkeiten moderne Gesellschaften haben, in erster Linie sich selbst vermarktende Scharlatane im Bereich der Medizin in ihre Schranken zu weisen. Silberman geht zunächst der Frage nach, wie es möglich war, dass in den USA das gesamte Wissen über Autismus sich in den Händen Leo Kanners als einzigem Kinderpsychiater konzentrieren konnte, der zugleich Autor des maßgeblichen, populären Fachbuchs der Kinderpsychiatrie war, das bis in die Gegenwart Generationen junger Psychiater prägte. Insbesondere recherchiert Silberman, wie es zu erklären ist, dass der mehrsprachige Kanner vorgeben konnte, die Beobachtungen des Wiener Kinderarztes Hans Asperger aus den 40ern nicht zu kennen und Aspergers anteilnehmende Beobachtung von Kindern mit autistischen Störungen u. a. deshalb weitgehend in Vergessenheit geraten konnten.

Dass Kinder mit dem Asperger-Syndrom sich anfangs normal zu entwickeln scheinen und ihre Probleme in der Kommunikation mit anderen Menschen erst später beobachtet wurden, führte in der Diagnose zu einer Reihe von Irrwegen und zu spekulativen, leider wirkungslosen Behandlungsmethoden. Zu diesen Irrwegen gehörten Diäten, Dressurprogramme um auffälliges Verhalten abzutrainieren, Psychoanalyse, massive Impfkritik und nicht zuletzt Kanners Erklärungs-Modell der „toxic Mum“, der Kühlschrankmutter, die die Verhaltensstörung durch ihre emotionale Kälte hervorrufen würde. Silbermans Darstellung charakterisiert Kanner als vielseitig talentierten Emigranten aus der Ukraine, der sich in den USA neu erfand und in der Begutachtung seiner kleinen Patienten einen bemerkenswert eingeschränkten Blick zeigte. Kanner bemerkte weder, dass seine eigene Familiengeschichte eine geradezu klassische Grundlage für das Vorkommen von Autismus bot, noch war er in der Lage zu erkennen, dass sich nur wohlhabende Familien überhaupt die Begutachtung ihrer Kinder durch ihn leisten konnten und er deshalb nur einen handverlesenen Ausschnitt aller Patienten zu Gesicht bekam. Seine Aussagen über die Häufigkeit von Autismus in der amerikanischen Bevölkerung, seine Annahme, nur Kinder wären betroffen und seine Behauptung, akademisch gebildete Mütter wären Ursache der Entwicklungsstörung, erwiesen sich als pure Spekulationen. Bemerkenswert, wie kritiklos z. B. Bernard Rimland an Kanners Lippen hing, obwohl er als betroffener Vater die Widersprüche im Universum seines Mentors hätte erkennen müssen. Im späteren Leben rückte Kanner von seinen Theorien Schritt für Schritt ab. Für die Betroffenen und ihre Familien jedoch hatte Kanners Einfluss bis dahin fatale Folgen. Kinder waren zum Leben in geschlossenen Anstalten verurteilt, weil Psychiater bestritten, dass sie lernfähig wären. Dort entwickelten sie, intellektuell völlig unterfordert, die Anzeichen von Hospitalismus, mit denen die Fehldiagnosen nachträglich wiederum zu rechtfertigen waren. Silberman ist hoch anzurechnen, dass er betrügerisches Vorgehen von Impfgegnern benennt, das die Erforschung des Asperger-Syndroms unnötig verzögerte und den betroffenen Familien unnötiges Leid bescherte.

Auch Bruno Bettelheim, zu seiner Zeit einflussreicher Star der Kinderpsychiatrie, zeigt Silberman in einem völlig anderen Licht, als Selbstdarsteller mit sonderbarem Lebenslauf und einem Doktortitel in Kunstgeschichte. Silberman portraitiert hier für die Erforschung des Asperger-Syndroms wichtige Patienten und prägende Psychiater, z. B. Oliver Sacks, der durch seine Fallgeschichten der anteilnehmenden Beobachtungen die Aufmerksamkeit verschaffte, die sie verdiente. Kanner und Sacks sind beide selbst Paradebeispiele für Exzentriker mit erheblichen sozialen Defiziten. Allein Sacks jedoch war in der Lage, sich als Exzentriker verwandten Seelen anteilnehmend und interessiert zuzuwenden. Wichtig finde ich die Nennung von Temple Grandin, Oliver Sacks` „Anthropologin auf dem Mars“, deren Biografie einen entscheidenden Schritt zum Verständnis des Autismus bedeutete. Für Kanner und seine Zeitgenossen wäre es unvorstellbar gewesen, dass eine Autistin promoviert, als Professorin lehrt und ihre Autobiografie verfasst.

Silbermans umfangreicher Blick in die Geschichte des Asperger-Syndroms lässt sich auch von medizinischen und psychiatrischen Laien problemlos lesen. Ob man als Leser den Irrwegen in der Beurteilung der Entwicklungsstörung, speziell in den USA, in allen Verästelungen folgen muss, bleibt fraglich. Silberman rehabilitiert mit seiner Arbeit Hans Asperger, dem lange Zeit unterstellt wurde, in Wien mit den Nazis kollaboriert zu haben. Die Biografien Kanners und Bettelheims mahnen uns alle, stärker darauf zu achten, wessen Interessen Wissenschaftler vertreten und wie genau sie angebliche Kausalitäten beweisen können.