Rezension

Geschichte ganz nah

Ein mögliches Leben
von Hannes Köhler

Bewertet mit 4 Sternen

Der Familienroman "Ein mögliches Leben" stammt von dem jungen Autoren Hannes Köhler, erscheint im Frühjahr 2018 beim Ullstein Verlag und umfasst 346 Seiten.
In ihm macht sich der hochbetagte Franz zusammen mit seinem Enkel Martin auf eine Reise in die Staaten. Hier besuchen sie gemeinsam ehemalige Strafgefangenenlager, in denen Franz nach seiner Festnahme 1944 in Frankreich durch die Amerikaner untergebracht war. Erzählt wird dieser Teil des Romans aus Sicht des Enkels, der seinen reservierten Großvater völlig neu kennenlernt und auch über sich selbst und sein Leben beginnt zu reflektieren. Unterbrochen wird die Handlung dann durch Erinnerungen des Großvaters an die Zeit in den Gefangenenlagern. Diese kommen nicht als Dialoge daher, sondern als Zeitsprünge zurück in die Jahre 1944/45. Aus der Sicht des jungen Franz bekommt der Leser nun einen schonungslosen Einblick in den Lageralltag, die vorherrschenden Hierarchien, den inneren Konflikt der Soldaten zwischen antrainierten Gehorsam, dem Realisieren von Schuld und dem Entdecken neuer Möglichkeiten. Ein weiterer Zeitsprung zurück in die Gegenwart führt uns nach Norddeutschland zu Barbara. Sie ist die Tochter von Franz, Mutter von Martin und steht somit für die 3. Generation im Roman. Zuerst nur verständnislose Zuschauerin des überraschenden USA-Besuches von greisem Vater und wankelmütigem Sohnemann, wird sie von Köhler jedoch gekonnt in die Abläufe integriert, stellt sozusagen das fehlende Bindeglied zum Verständnis des Romans dar.
Für mich ist der Roman schlüssig aufgebaut, die Zeitsprünge sind nicht zuletzt durch die wechselnden Erzählperspektiven gut nachzuvollziehen. Zudem sind die drei Hauptfiguren sympathische Zeitgenossen, die reflektiert durch´s Leben gehen und klar nachvollziehbare Standpunkte vertreten. Ganz am Ende des Buches wird dann noch ein deutlicher Bezug zum Titel "Ein mögliches Leben" hergestellt, den es für mich so nicht mehr gebraucht hätte, da er zwischen den Zeilen immer wieder anklingt.
Neben dem Plot, der ohne Frage schon reines Lesevergnügen verspricht, gefällt mir der Schreibstil des Autoren besonders gut. Er versteht es, mit Worten ganze Landschaften auferstehen zu lassen und kann ganz eindrücklich Atmosphären schaffen - positive wie negative. Und dies alles spickt er mit philosophischen Ansätzen, die unsere aktuelle gesellschaftliche Situation in ein deutliches Licht setzen und mich sehr nachdenklich zurücklassen.
Einziges Rätsel des Buches bleibt für mich das um 90° gedrehte Cover. Daher erspare ich mir hier etwaige Spekulationen dazu.
Diesen Roman kann ich guten Gewissens all den Lesern ans Herz legen die bereit sind, sich mit einem unschönen Teil deutscher Geschichte auseinanderzusetzen und dies nicht mit einem verstaubten Lehrbuch tun wollen, sondern unterhaltsam verpackt in einer sehr gut recherchierten Familiengeschichte. Wer sich dann noch für den Einsatz diverser stilistischer Sprachmittel im Text begeistern kann, dem wird dieses Werk ein Vergnügen sein. Vielen Dank an den Ullstein Verlag, dass ich es lesen und rezensieren durfte.