Rezension

Geschichte in Sprüngen nach hinten

Archipel - Inger-Maria Mahlke

Archipel
von Inger-Maria Mahlke

Ort: Teneriffa, Zeit: 9. Juli 2015. Handlung: eigentlich keine. Ana ist Politikerin und in einen Skandal verwickelt; sie muss abtauchen. Ihr Mann Felipe hängt nur noch im Club ab, seit ihm nicht die Leitung eines Forschungsprojekt zugesprochen wurde und er seine Dozentur hingeworfen hat. Ihre Tochter Rosa "macht was mit Kunst", aber was genau weiß sie selbst nicht. Der Einzige, der hier noch eine sinnvolle Aufgabe hat, ist Anas Vater Julio, der mit über neunzig Jahren Pförtner im Altenheim ist und darauf achtet, dass keiner der dementen Bewohner nach draußen verschwindet.

Eine ziemlich verfahrene Situation. Wie konnte es dazu kommen? Langsam schreitet die Geschichte zurück: Nach 2015 lesen wir von 2007, von 2000, von 1993 und so weiter bis hin zu 1919 und der Nacht, in der Julio geboren wird. Dabei bewegt sich Mahlke in Sprüngen. Mal landet sie bei einer Episode, die von historischer Bedeutung ist, wie z.B. Francos Besuch, von dem aus er seinen Staatsstreich führte, dann wieder erzählt sie private Vorkommnisse. Dabei bleiben viele Lücken: Weder wird ausführlich von der Geschichte der Kanarischen Inseln berichtet noch ergibt sich ein umfassendes Bild der Protagonisten. Alles bleibt ausschnitthaft; diese Ausschnitte sind aber detailliert und erzählerisch gekonnt, so dass ich von den Personen angezogen wurde.

Die Idee, eine Geschichte "von hinten" zu erzählen, ist ungewöhnlich und die Lektüre zunächst sperrig. Üblich sind doch Entwicklungsgeschichten, möglichst zu einem positiven Ziel führend. Thomas Mann, der in seinen "Buddenbrooks" vom Verfall einer Familie erzählte, ging damit einen ungewöhnlichen Weg. Auch hier empfinde ich die Figuren der Gegenwart , besonders Ana und Felipe, als kraftlos und ohne sichere Identität. Dagegen gibt es in der Vergangenheit doch einige Charakterköpfe zu entdecken. Aber dass früher alles besser war, kann man daraus auch wieder nicht schließen. Und die Vermutung, dass sich die Gegenwart aus der Vergangenheit erklärt, trifft auch nicht zu: Sicher grenzen die bisherigen Erfahrungen Möglichkeiten ein, aber dennoch ist nicht alles festgelegt. 

Ein formal innovativer Roman, der mit vielen Auslassungen spielt und dem Leser einiges zumutet, aber auch zutraut. Er steht auf der shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018; zum Zeitpunkt dieser Rezension steht der Siegertitel noch nicht fest.

Kommentare

Arbutus kommentierte am 24. September 2018 um 23:28

Hallo Firi, das ist ja sehr erfrischend, mal wieder eine Rezension ohne jede Sternchenbewertung auf sich wirken zu lassen. 

...oh..., erst jetzt sehe ich, dass das hier grundsätzlich ohne Sternchen anzeigt wird. Und ich war gaz sicher, das wäre ganz und gar innovativ von Dir ... ; )

Trotzdem eine sehr schöne und informative Rezi! 

FIRIEL kommentierte am 26. September 2018 um 20:14

Das ist doch das Buch aus der shortlist, das dich am meisten interessiert, oder?

wandagreen kommentierte am 24. September 2018 um 23:37

Ist es auch. Firi ist Sternchenverweigerin. Bald darf sie nicht mehr in der Nationalmannschaft mitspielen xD.

FIRIEL kommentierte am 08. Oktober 2018 um 21:35

Wer hätte das gedacht: "Archipel" ist der Siegertitel und hat den Deutschen Buchpreis gewonnen!

wandagreen kommentierte am 27. Dezember 2018 um 09:21

Und ist schrecklich öde!