Rezension

Geschwister zwischen Liebe und Hass

Die Landkarte der Liebe
von Lucy Clarke

Bewertet mit 5 Sternen

Die beiden Schwestern Mia und Katie Greene sind nicht gerade ein Herz und eine Seele, dennoch lieben sie sich. Während Katie vorausschauend, verantwortungsbewusst, und zuverlässig ist, fällt Mia durch Impulsivität, Risikofreude und Freiheitsliebe eher negativ auf. Zusammen mit ihrem besten Freund Finn Tyler und zwei Round-the-World-Tickets, begibt sich die Jüngere spontan auf Weltreise. Eine Rucksacktour mit Stopps in den USA, Australien, Neuseeland, Fidschi, Samoa, Vietnam und Kambodscha. Derzeit sollten sich die beiden in Westaustralien befinden – so der Plan.
Es scheint wie ein böser Traum, als Katie des Nachts von der Polizei aus dem Bett geklingelt wird, um ihr mitzuteilen, dass ihre Schwester tot am Fuße der Klippen in Umanuk, an der Südspitze Balis, aufgefunden wurde. Katie ist fassungslos. Was war geschehen? Wieso Bali?
Zunächst geht die balinesische Polizei von einem tragischen Unfall aus. Doch dann lassen Autopsie inklusive toxikologischem Befund und eine verlässliche Zeugenaussage nur noch einen Schluss zu: Mia sprang kopfüber in den selbst gewählten Tod. Für Katie ein Weltuntergang!
Die Zeit rinnt dahin, Tage vergehen. Der Leichnam wird überführt und die Beerdigung findet statt. Erst danach wagt es Katie, einen Blick in Mias Reisegepäck zu werfen. Im Rucksack stößt sie neben Kleidung und sonstigen Utensilien auf ein Tagebuch. Der schimmernde, meerblaue Stoffeinband enthält ganze sechs Monate aus Mias Leben, festgehalten in kleinen Kunstwerken, die allesamt eine Geschichte erzählen. Von aufregenden Erlebnissen, neuen Orten und Bekanntschaften, aber auch von Mia selbst. Katie fasst den Entschluss, der Spur ihrer Schwester zu folgen, kündigt ihren Job und bucht exakt die gleiche Reiseroute wie Mia im Jahr zuvor. Schritt für Schritt, Station für Station, versucht sie auf der Rucksacktour, Mia näherzukommen, sie zu verstehen, ihren Tod zu akzeptieren, loszulassen und nach vorn zu blicken. Doch dazu muss sie bis zum bitteren Ende nachvollziehen, was passiert ist. Selbstmord war es nicht, da ist sich Katie sicher. Ist sie doch?
Geleitet von Hinweisen aus Mias Reisetagebuch, wählt sie Übernachtungsmöglichkeiten und Restaurants und besucht öffentliche Plätze. Dabei lernt sie nicht nur Mia kennen, sondern auch sich selbst. Schließlich steht auch sie auf jenem Felsplateau, nahe am Abgrund, mit Blick auf das Meer, den Wind in den Haaren und dem Gefühl von Freiheit ...

LUCY CLARKE beginnt ihr Romandebüt mit einem Paukenschlag. Die Hiobsbotschaft vom Tod der Schwester überrumpelt nicht nur Hauptfigur Katie Greene, auch für den Leser stellt sich dieses einschneidende Ereignis als Ausgangspunkt einer abenteuerlichen Reise, gar einer Gratwanderung zwischen Liebe und Hass dar.
Dreiunddreißig Kapitel, verfasst in dritter Person Singular aus verschiedenen Perspektiven rekapitulieren wechselweise das Geschehen aus Gegenwart und Vergangenheit. Dank lebendigem Schreibstil und der natürlichen Sprache nimmt das Kopfkino rasch Gestalt an.
Die Autorin hat selbst einen Faible für das Meer und Reisen in ferne Länder und lässt ihre Ansichten und Eindrücke unumwunden in ihre Geschichte einfließen. Die Kulissen berauschen mit einer wahren Flut von Bildern, Geräuschen und Gerüchen. Ebenso stark nehmen intensive Emotionen die Leserschaft gefangen. Die Charaktere erhalten fortlaufend mehr Persönlichkeit. Immer tiefer lässt LUCY CLARKE in ihre Seelen blicken und schafft Nähe und Verständnis. Fast nebensächlich erscheinende Dinge wie eine seltene Orchidee mit knapper Notiz, eine herausgerissene Seite im Tagebuch oder ein durchtrenntes Foto aus Kindertagen wecken eine unterschwellige Spannung. Noch größer entsteht der Sog der Handlung jedoch durch unausgesprochene Worte und allerlei Geheimnisse, die erst nach und nach an die Oberfläche gelangen und der Geschichte die eine oder andere Wendung geben.
Die Beziehungen der Figuren untereinander sind verworren. Zwischen Geschwistern entsteht oftmals ein Konkurrenzdenken, genauso wie gegenseitige Bewunderung möglich ist. Fühlt sich der eine ausgegrenzt und befindet sich vermeintlich grundsätzlich im Schatten des anderen, möchte dieser doch vielmehr am liebsten die Rollen tauschen. Kommunikation ist alles – findet die jedoch nicht statt, haben beide ein Problem. Die Autorin treibt es in Anbetracht des Todes auf die Spitze. So stehen sich Hoffnung und Enttäuschung sehr nah und viele Erkenntnisse sind besonders tragisch, da sie leider zu spät gewonnen werden.
DIE LANDKARTE DER LIEBE bewegt den Leser, geht zu Herzen und regt zum Nachdenken an. Nicht nur zwischen Geschwistern bleibt oft verborgen, worüber doch schon ein einziges Wort ausreicht, eine Menge zu bewirken. Das Geschehen birgt demnach große Authentizität, wenn auch der Verlauf in diesem Fall rein fiktiv ist. Zum Ende der Reise klärt sich natürlich die wichtigste Frage des Romans und die Geschichte erhält einen würdigen und zufriedenstellenden Abschluss.

Optisch ist das im Piper Verlag erscheinende Buch ein farbenfroher Eyecatcher. In changierendem Türkis mit fuchsiafarbenen Orchideen und der Fotografie einer jungen Frau zieht das Cover die Leserschaft magisch an. Und auch auf den zweiten Blick ist die Liebe zum Detail ersichtlich. Innen erstrahlt peppiges Pink und den Beginn jedes Kapitels läutet eine kleine Orchideenrispe in Grautönen ein. Das Schriftbild ist etwas klein geraten, lässt sich aber dennoch flott lesen. Papier, Druck und Bindung der Klappenbroschur sind von guter Qualität.

Fazit: DIE LANDKARTE DER LIEBE birgt großes Gefühlskino. Liebe und Hass zweier Schwestern liegen nahe beieinander. Wie nah, zeigt die abenteuerliche Reise über drei Kontinente und ein tragischer Todesfall, den der Leser zusammen mit LUCY CLARKE ergründet. Mit einem Händchen für Schauplätze, Atmosphäre und Emotionen, erzählt die Autorin von schicksalsträchtigen Ereignissen, verzwickten Geheimnissen und unausgesprochenen Worten. Eine Geschichte, die zu Herzen geht und zum Nachdenken anregt. Ohne Frage eine Empfehlung wert!