Rezension

Gesellschaften sind erfolgreich, die Vielfalt tolerieren

Blueprint - Wie unsere Gene das gesellschaftliche Zusammenleben prägen - Nicholas Alexander Christakis

Blueprint - Wie unsere Gene das gesellschaftliche Zusammenleben prägen
von Nicholas Alexander Christakis

Bewertet mit 4.5 Sternen

Das Nicholas Christakis prägende Ereignis seiner Kindheit waren die Menschenmassen, die 1974  Konstantin Karamanlis bei seiner Rückkehr nach Griechenland aus dem Exil erwarteten. Als Mediziner, Soziologe und Statistiker erforscht er inzwischen Soziale Netzwerke und Kräfte, die das Handeln in Menschengruppen bestimmen. Seine Forscherkollegen und er nutzen moderne Medien, um weltweit Probanden zu rekrutieren und zu befragen. Eins von Christakis Themen war u. a. die Veränderung von menschlichem Verhalten durch Influencer zur Senkung der Kindersterblichkeit. Aus der Beobachtung, dass aktuell und kulturübergreifend eine nie dagewesene Polarisierung von Gesellschaften zu verzeichnen ist, resultiert Christakis Forschungsansatz, ob die Voraussetzungen für Gruppenbildung mit ihrem „Stammesdenken“ genetisch bedingt sein könnten. Blueprint/Bauplan als griffiges Schlagwort trifft dabei nicht ganz Christakis Annahme, unsere Gene lieferten bereits einen Plan für die menschliche Spezies als Gruppenwesen. Christakis Hoffnung: Wenn wir die Grundlagen unserer Kultur als genetisch bedingten Bauplan begreifen könnten, müssten wir Vielfalt großzügiger tolerieren und damit unsere Überlebenschancen als Spezies verbessern können.

Der Autor versammelt Grundwissen über das Sozialverhalten kleiner Kinder (Bindungsfähigkeit, angeborenes moralisches Empfinden, Empathie, Kooperationsfähigkeit), Erkenntnisse aus der Zwillingsforschung und aus der Beobachtung großer Säugetiere (Primaten, Elefanten, Wale). Am Beispiel der Shackleton-Expediton (1922) und der Meuterer der Bounty (1789) auf Pitcairn Island zeigt er, welchen Einfluss Persönlichkeitszüge und Führungsqualitäten auf die Überlebenschancen gestrandeter Teams haben können. Ein weiter Bogen führt von Thoreau am Walden Point zu alternativen Lebensformen der Shaker, im israelischen Kibbuz, in Twin Oaks und städtischen Kommunen. Auch das intensiv erforschte Zusammenleben wissenschaftlicher Teams auf Forschungsstationen in der Arktis trägt zum Wissen über Gruppenprozesse bei. Schließlich erklären Details zur Partnerwahl und die Durchsetzung der  Monogamie (zum Schutz von Status und Besitz), wie Gewaltbereitschaft gesenkt und der soziale Frieden gewahrt werden kann.

Ob Gruppenidentität ein gemeinsames Feindbild erfordert und wie generell das „Wir und die da“ entsteht, fand ich höchst interessant. Christakis Forschungsergebnisse z. B. zum Testosteron-Spiegel in der männlichen Biografie könnte so interpretiert werden, dass Kooperation, Uneigennützigkeit und Empathie sich in einer Gesellschaft durch die Partnerwahl von Frauen theoretisch durchsetzen müssten, weil Männer heute nur selten ihre Partnerin in fremden Clans rauben müssen.  Für die höchst komplexen Probleme, die derzeit aus Angst vor Überfremdung resultieren, scheint mir das jedoch zu kurz gedacht. Ein Blick auf die Straße und in die Parlamente erzählt zurzeit allerdings eine andere Geschichte. Für die Einsicht, dass in der Wirtschaft und im Berufsleben diverse/vielfältige Teams aus Männern, Frauen, verschiedenen Generationen und Kulturen homogenen Teams überlegen sind, dafür haben Konzerne bereits erhebliches Lehrgeld bezahlen müssen.

Auf 460 Seiten (ohne Quellenangaben gezählt) liefert Christakis so umfangreiches Grundwissen, dass ich mich ab und zu fragte, wie er den Bogen zum Ausweg aus der Spaltung von Gesellschaften noch schlagen wird. Sehr eindrucksvoll seine Kartierung von Gruppenbeziehungen, die anschaulich zeigt, welche Fehler in der Teambildung sich frühzeitig beim Treffen am Kaffeautomaten abzeichnen würden, wenn denn jemand einen Blick dafür hätte. Wer sich für Verhaltensforschung, Gruppenbildung und Partnerwahl interessiert, bekommt eine Menge Fakten geliefert. Das Buch lässt sich problemlos lesen und profitiert von Christakis nüchterner Selbsterkenntnis über den blinden Fleck in der Forschung. Die Menschen erzählen Forschern manches, aber nicht alles – und wenn männliche Anthropologen noch nicht vom weiblichen Orgasmus gehört hätten, bedeute das noch lange nicht, dass es ihn nicht gibt …

Wer  direkte Lösungen erwartet, wird vermutlich bei Christakis nicht fündig, man findet jedoch Erklärungen, die direkt vor der eigenen Nase warteten, ohne dass man sie bisher erkennen konnte.