Rezension

Gesellschaftskritik, überzeugend aufbereitet

Die spürst du nicht -

Die spürst du nicht
von Daniel Glattauer

Bewertet mit 5 Sternen

Der wohlverdiente Urlaub ist greifbar. Tage der Erholung warten auf sie, sie sind unterwegs Richtung Toskana, die Strobl-Marineks und die Binders mit ihren Kindern. Auch darf Sophie-Luises Schulfreundin Aayana, ein dunkelhäutiges Flüchtlingskind, mitfahren. So ganz vollzählig sind sie noch nicht, denn die Grün-Politikerin Elisa Strobl-Marinek kommt ganz umweltfreundlich mit dem Zug, die Ökobilanz muss gerade bei ihr stimmen.

Die lockere Urlaubsstimmung wird bald getrübt, es kommt zur Katastrophe und danach stellt sich die Frage: Wer trägt die Schuld? Da sind auf der einen Seite die beiden österreichischen Familien, allen voran die Strobl-Marineks, und auf der anderen Seite die Eltern und der Bruder von Aayana. Die Fassaden bröckeln, sie haben zu viel zu verlieren, wollen oder können sich nicht eingestehen, welch Ignoranten sie in Wahrheit sind.

Ich hatte schon vor dem „Vorfall“ das Gefühl, dass hier eher Egomanen nebeneinander her leben. Und danach treten die einzelnen Charaktereigenschaften noch sehr viel deutlicher zutage. Die Außenwirkung ist enorm wichtig, bei einer im Rampenlicht stehenden Politikerin erst recht. Elisa weiß, was an die Öffentlichkeit soll und darf, alles darüber hinaus geht niemanden etwas an. Ihre Tochter war schon immer sehr selbständig, war pflegeleicht, sie hatte seit jeher den Ruf, immer und überall die Beste zu sein. Ist das Grund genug, sich als Eltern aus der Verantwortung zu stehlen? Sophie-Luise spürt die fehlende Empathie ihr gegenüber, Verständnis findet sie im Netz bei einem virtuellen Freund. Er ist besonders fürsorglich, hört zu, baut sie auf, er ist für sie da. Er ist für sie all das, was ihr im echten Leben fehlt. Denn hier herrscht schon lange Sprachlosigkeit.

Daniel Glattauer erzählt unaufgeregt, er durchleuchtet die charakterbezogenen Handlungsweisen der Einzelnen, hinterfragt ihr Tun, ohne anklagend zu sein. Und nimmt die sozialen Medien nicht aus, die differenzierten Sichtweisen der hier Agierenden werden aufs Trefflichste dargestellt. Die Posts sind hier ein gutes Stilmittel. Früher war es der Stammtisch im Wirtshaus, heute sind es die sozialen Medien. Es ist ein Für und Wider. Da werden die Flüchtlinge angeprangert, wird die Grün-Politikerin angefeindet oder eher in Schutz genommen. Die einen werden angegriffen, andere spielen sich als Verteidiger auf, mit Chuzpe und auch mit Scheuklappen wird drauflos gepoltert, was das Zeug hält.

„Die Wahrheit ist ein Chamäleon.“ Wie wahr! Das Geschehen wird so lange gedreht, gewendet, umgestülpt, zurechtgestutzt, dass es für diejenigen passend wird, die sich als die eigentlichen Opfer sehen. Der aalglatte Staranwalt gegen den unbedarften Anwalt der Flüchtlingsfamilie. Nicht nur hier wird mein Gerechtigkeitssinn strapaziert.

Es sind sehr aktuelle Themen, die der Autor in seine Geschichte verpackt. Sehr lebensnah, seine Figuren sind glaubhaft, die Auseinandersetzung mit den Flüchtlingen hat wohl jeder so oder so ähnlich schon verfolgt. Sei es direkt, hautnah. Oder in den vielen Foren, die ein realistisches Bild unserer Gesellschaft aufzeigen. Wahrheit oder Lüge ist nicht relevant, wer will, versteckt sich hinter der Anonymität.

Ein Auszug aus dem Buch zeigt nur allzu deutlich auf, wie wir ticken, was wir von den Flüchtlingen halten:  „Die sind zwar auch unter uns, aber nur scheinbar mitten unter uns. Sie sind unter uns in einem anderen Sinne: Sie sind darunter. Unter unserer Wahrnehmung. Unter unserem Interesse. Ihre Geschichte will hier keiner hören. Und sie können sie auch nicht erzählen. Sie werden nicht danach gefragt. Und von sich aus schaffen sie es nicht, sich zu Wort zu melden. Ihnen fehlen die Mittel. Ihnen fehlt unsere Kultur. Ihnen fehlt unsere Bildung, auf die wir uns so viel einbilden…“ Es geht noch weiter, jedes Wort davon stimmt.

„Die spürst du nicht“ – ein leiser Roman, ein Porträt unserer Gesellschaft. Das Gelesene hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ein „Sittenbild unserer privilegierten Gesellschaft“, das Lesen lohnt sich.