Rezension

Gewalt pur

Die geraubten Mädchen - Wolfgang Bauer

Die geraubten Mädchen
von Wolfgang Bauer

Im April 2014 überfiel ein Kommando der Terrororganisation Boko Haram das Dorf Chibok im Nordosten Nigerias und entführte 276 Schülerinnen aus dem örtlichen Internat. Ein Aufschrei ging um die Welt. Unter dem Hashtag »Bring Back Our Girls« verliehen Persönlichkeiten wie Michelle Obama und die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai ihrem Entsetzen Ausdruck. Das Schicksal der Schülerinnen aus Chibok ist kein Einzelfall. Bis heute befinden sich Tausende Frauen in den Händen der Islamisten. Im Juli 2015 reiste der Zeit-Reporter Wolfgang Bauer nach Nigeria, um mit Mädchen zu sprechen, denen die Flucht gelungen ist. Sie berichten von ihrem Leben vor ihrer Entführung, von ihren grausamen Erfahrungen während der Gefangenschaft und von ihren Träumen für eine bessere Zukunft. Die Erzählungen der Frauen bieten exklusive Einblicke in das Innenleben der Organisation und zeichnen ein detailliertes Bild des Schreckensregimes von Boko Haram. Zugleich beleuchtet das Buch die historischen und politischen Hintergründe des Terrors und zeigt, wie er das ethnische und kulturelle Gleichgewicht in einer der vielfältigsten Regionen der Welt zerstört. Vor allem aber gibt es den Mädchen ihre Stimme zurück. Eine kraftvolle Stimme, die von Leid und Gewalt erzählt, aber auch von Mut. Und von Hoffnung. (von der Suhrkamp-Verlagsseite kopiert)

Mit 188 Millionen Einwohnern ist Nigeria das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Von den ergiebigen Erdölvorkommen, den Rohstoff- und Diamantenexporten profitieren wegen der Korruption nur wenige, so dass ein Großteil der Bevölkerung v.a. auf dem Land ohne fließendes Wasser, Elektrizität und auch ohne Schulbildung der Kinder lebt.
Boko Haram ist als terroristische Vereinigung seit etwa 15 Jahren besonders im Nordosten des Landes aktiv; offiziell geht es ihr um die Errichtung eines islamischen Staates und die Einführung der Scharia. Mitglieder der militärischen Gruppe ziehen von Ort zu Ort, töten die Männer und entführen die Frauen in den Sambisa-Wald, ein undurchdringliches Gelände, vor dem sogar das staatliche Militär kapituliert. Die Frauen, unter ihnen auch nicht-geschlechtsreife Mädchen, werden durch körperliche Gewalt, Nahrungs- und Wasserentzug und Psychoterror (Ermordung der Ehemänner und Väter, Trennung von den Kindern/Eltern/Geschwistern) gefügig gemacht, unter Bewachung gestellt und zwangsverheiratet, also Dauer-Vergewaltigungen ausgesetzt. Sie werden zu exzessivem Koranunterricht gezwungen und nicht selten als Selbstmordattentäterinnen missbraucht (siehe die Tagesnachrichten vom heutigen 17.2.2018)
Wenn den Frauen die Flucht gelingt, ist ihr Leiden nicht vorbei. Vergewaltigung ist eine Schmach, die der Frau anhaftet; noch schlimmer, wenn sie ein Kind von ihrem Peiniger erwartet oder bekommen hat. Sie wird zur Ausgestoßenen und leidet an sich selbst, ihrer fehlenden Liebe für das Kind. Nicht wenige Frauen werden in staatlichen Heimen untergebracht, weil man Angst hat, sie könnten von Boko Haram ideologisch infiziert sein. Diese Heime sind auch nichts anderes als Gefängnisse.
Das Militär ist im Großen und Ganzen machtlos. Angriffe aus der Luft, an denen sich auch die USA kurz beteiligten, treffen auch die Unschuldigen, und selbst wenn man die Terrorgruppen aus den Dörfern gedrängt hat, ziehen sie sich in den Sambisa-Wald zurück und sind unangreifbar.

Der Autor Wolfgang Bauer war, oft unter Lebensgefahr, in Nigeria, um die Frauen zu interviewen. Er ließ ihnen Raum und Zeit, um ihre Geschichten zu erzählen; er schreibt über ihren Schmerz und ihre Verzweiflung um ihr verlorenes Leben, über die Angst, die sie nie mehr verlassen wird, und die Trauer um die Getöteten.
Die Gesichter auf den Fotos sprechen für sich.
Ein wichtiges Buch; wenn Boko Haram nicht eine spektakuläre Unrechtstat begeht wie die Entführung der 276 Mädchen im Jahr 2014, hört und sieht man hierzulande nicht viel. Dass jeden Tag Menschen getötet, Frauen entführt und vergewaltigt werden, blenden wir gern aus – sicher nicht aus bösem Willen, sondern vielfach aus schmerzlicher Ohnmacht.
Denn ich hoffe, dass heute niemand mehr behauptet, mit Problemen irgendwo auf der Welt ganz ganz weit weg hätten wir hier nichts zu tun. Spätestens seit der ersten großen Flüchtlingswelle weiß man bei uns, dass viele Menschen bereit sind, über Tausende von Kilometern zu Fuß zu fliehen, wenn ihnen ihre Heimat keine (Über)lebensmöglichkeit mehr bietet. Man schätzt, dass sich etwa ein Drittel der Nigerianer auf den Weg gemacht hat. Wenn man das Buch gelesen hat, wundert man sich nicht mehr.