Rezension

Gewichtig im doppelten Sinn

Geschichte der Völkerwanderung - Mischa Meier

Geschichte der Völkerwanderung
von Mischa Meier

Bewertet mit 5 Sternen

Angesichts des Preises (58 €), des Umfangs (1532 Seiten, davon 1104 Seiten darstellender Text) und des Gewichts (nicht ganz 2 kg) sicherlich kein Buch für jedermann. Ich hatte es mir zu Weihnachten gewünscht und als Leseprojekt für die Sommerferien vorgenommen, doch der lockdown wegen Corona und der dadurch bedingte Umstieg auf homeschooling hat es ermöglicht, früher damit einzusteigen. Insgesamt habe ich gut fünf Wochen gebraucht (unterbrochen durch eine Romanlektüre) um dieses im doppelten Sinn gewichtige Werk zu lesen, was mal so eben nebenher auch nicht möglich ist.

Der Althistoriker Mischa Meier beschreibt in seiner "Geschichte der Völkerwanderung"  den Zeitraum vom 3. bis zum 8. Jahrhundert nach Christus, also den Übergang von der Spätantike zum Mittelalter und die Wechselwirkungen zwischen dem üblicherweise "Völkerwanderung" genannten Vorgängen mit dem allmählichen Verschwinden des Imperium Romanum.

Nach einem anregenden Einstieg, dem Vergleich zweier strukturell ähnlicher Ereignisse (die letztlich erfolglose Belagerung Konstantinopels durch die Awaren im Jahr 626  und die Eroberung Roms durch die Westgoten im Jahr 410) stellt der Fachmann einige umfangreiche Überlegungen zur Methodik seiner Analyse an, die für Nicht-Historiker vielleicht nicht ganz so interessant sind, doch dann beginnt die Darstellung des komplexen Sachverhalts, gegliedert nach Regionen (Europa/Nordafrika/Asien) und den jeweiligen Jahrhunderten. Dabei stellt sich die Frage, ob der Begriff "Völkerwanderung" überhaupt noch zutreffend ist und nicht falsche Vorstellungen weckt, die tatsächlich auch lange, insbesondere durch die nationalbewusste deutsche Geschichtsschreibung bedient wurden, man denke an Felix Dahns "Ein Kampf um Rom". Meier macht an zahlreichen Beispielen aus den drei genannten Regionen deutlich, dass es eben keine Völker waren, die sich geschlossen auf Wanderschaft begeben haben, oft mit einer Art Domino-Effekt begründet (irgendwo beginnt in der fernen Steppe ein Volk das andere zu verdrängen, so dass irgendwann die Folgen dieser Verdrängung an den Grenzen des Imperium Romanum zu spüren sind). Tatsächlich handelt es sich bei den zahlreichen "Stämmen", seien es die West- und Ostgoten, die Vandalen, die Franken, die Berber, um nur einige von vielen Beispielen, die Meier beschreibt, eher um militärische Verbände, die, angelockt durch lange Kontakte an den Grenzen, unter der Führung sogenannter Warlords immer wieder auch in kriegerischer Absicht ins Reich einfielen, um dort zu plündern oder sich dort, anfangs noch mit Billigung der west- und oströmischen Autoritäten niederzulassen. Da diese Anführer stets unter dem Druck standen, ihre Erfolge für die ihnen zustrebenden Kämpfer zu wiederholen (schließlich wollte jeder sein Stück vom Kuchen), wurden die Raubzüge immer zahlreicher und weiträumiger. Im Fall der Hunnen führte diese Dynamik letztendlich zu ihrem Verschwinden nach Attilas Tod. Doch waren die Führer erfolgreich, dann entstanden aus diesen anfangs eher lockeren Verbänden wirkliche Ethnien, die sich mal mehr (Franken), mal weniger erfolgreich (Vandalen/Goten) im Gebiet des Imperium Romanum breit machten [in einem anderen Kontext spricht Meier von "Findelkindern der Völkerwanderung" (S. 923). eine Metapher, die meiner Ansicht nach auf viele der genannten Verbände zutrifft). Damit wiederum trugen sie nicht unerheblich zu dessen Zusammenbruch bei, wenn auch nicht allein verantwortlich (auf die innerrömischen/-byzantinischen Verhältnisse geht Meier ebenso ausführlich ein). Das Reich wurde sozusagen von außen wie von innen zerfressen, mit jeder Provinz, die dem Imperium verloren ging, verminderten sich auch Steuereinnahmen und Rekrutierungsgebiete für neue Soldaten, beides dringend notwendig, um den imperialen Anspruch aufrecht zu erhalten.

Doch die Kontakte zwischen den Römern und den sogenannten Barbaren (wobei dieser Begriff verallgemeinert und den Fremden immer wieder die gleichen stereotypen Verghaltensweisen, schwankend zwischen Untieren und edlen Wilden"zuweist, Meier unterscheidet in diesem Kontext eher zwischen innen und außen) waren nicht nur kriegerisch. Das Einsickern von Menschen, Handelsgütern und kulturellen Vorstellungen beiderseits der Grenzen führte auch zu Annäherungen, die die o.g. Unterscheidung fragwürdig machten. So gab es durchaus Römer unter den Hunnen, und andererseits waren viele der bekannten  "germanischen" Heermeister eher Römer denn "Barbaren.

Gegen Ende seiner Darstellung widmet sich Meier dann ausgiebig den Entwicklungen im byzantinischen Reich, das durch zahlreiche Naturkatastophen, Kriege mit den Persern und damit verbundene Gebietsverluste sowie innere Unruhen, bedingt durch den Laien immer wieder verwirrende religiöse Auseinandersetzungen über die Natur Jesus regelrecht in Endzeiterwartungen erstarrte. Die zunehmende religiöse Durchdringung des Alltags, gipfelnd in der beinahe gottgleichen Selbstdarstellung der Kaiser sowie die Zusammenarbeit mit arabischen Stämmen zur Abwehr der Perser ebnete Meier zufolge auch dem Aufstieg des Islam ein stückweit den Weg.

Alles in allem ein durchasu gewichtiges Buch, das jedem historisch interessiertem Leser empfohlen werden kann.