Rezension

Gilles' Lachen

Das wirkliche Leben - Adeline Dieudonné

Das wirkliche Leben
von Adeline Dieudonné

Bewertet mit 5 Sternen

„Gilles war in jenem Sommer sechs, ich war zehn.“

Eine kleine Reihenhaussiedlung am Waldrand. Alles hat seine Ordnung. Im schönsten und größten Haus wohnt die namenlose Erzählerin mit ihrem kleine Bruder Gilles und den Eltern. Doch es ist keine liebevolle Familie. Der Vater ist ein brutaler Mann. Wenn er nicht gerade die Mutter misshandelt, trinkt er, hängt vor dem Fernseher ab oder geht seinem grotesken Faible für die Jagd nach. Die Mutter hat sich aufgegeben, ihr Dasein gleicht einer „Amöbe“. Die beiden Kinder entgehen dem tristen Alltag beim Spielen auf einem nahegelegenen Schrottplatz und Streifzügen durch den benachbarten Wald. Es ist Gilles‘ magisches Lachen, das „alle Wunden heilen kann“. Doch eines Tages werden die Kinder Zeugen eines tragischen Unfalls. Völlig alleingelassen mit der Verarbeitung dieses traumatischen Ereignissen, treibt es die Familie auf eine Katastrophe zu.

Die belgische Autorin Adeline Dieudonné schreibt in ihrem Debütroman über „Das wirkliche Leben“, und das tut sie mit einer messerscharfen, bildhaften Sprache. Ihre sehr junge Icherzählerin hinterlässt trotz der Distanziertheit der Erzählung einen tiefgehenden Eindruck bei mir. Es ist ein Buch über das Aufwachsen in einer dysfunktionalen Familie, über eine Kindheit und Jugend geprägt von einem toxischen Weltbild des Vaters. Es ist geht um Kinder, die ohnehin schon schwer zu verkraftendes Leben haben, die aber durch ein schreckliches Ereignis völlig auf sich gestellt aus der Bahn geworfen sind.

„Geschichten sind dazu da, alles hineinzupacken was uns Angst macht. Denn so können wir uns sicher sein, dass es nicht im wirklichen Leben passiert.“

So versucht das Mädchen ihren kleinen Bruder immer zu beruhigen. Bis sie es eines Tages nicht mehr schafft, ihn zu erreichen, sein wunderbares Lachen verstummt. Es beginnt eine Zeit, in der die Magie (der Kindheit) nicht mehr wirkt, wo nur mehr Wissenschaft zu helfen scheint. Und das Mädchen stürzt sich in einen Eifer des Lernens. Nur das hält sie aufrecht, bestärkt sie darin, Vergangenes wieder gut machen zu können.

Das wirkliche Leben dieser Kinder ist ein Leben mit Gewalt, Misshandlung, Einsamkeit ohne einen wirklichen Ausweg. Wenn die Personen, die dich eigentlich lieben und beschützen sollten, die dich aber physisch, psychisch, verbal und brachial quälen und im Stich lassen, wird dieses Leben wirklich, wird es zu einer Normalität. Wer von den Eltern keinen Schutz zu erwarten hat, was kann man dann von Fremden erwarten?

„Kinder brauchen bis zu acht Anläufe, bevor ein Erwachsener ihnen glaubt.“ , hört man von ExpertInnen, die im Kinderschutz tätig sind. Manche geben schon früher auf. Während der Praxis des Wegschauens dreht sich die Spirale der Gewalt weiter.

Der Schluss des Buches trifft mitten ins Herz und beinhaltet bei aller Wirklichkeit ein kleines bisschen Magie.