Rezension

Graffitis die zum Leben erwachen

Stadt der tanzenden Schatten - Daniel J. Older

Stadt der tanzenden Schatten
von Daniel J. Older

Inhalt:
Auf dem verlassenen Rohbau eines fünfstöckigen Turms vervollständigt Sierra in jeder freien Minute ihre Graffiti-Zeichnung. Neben einer perfekten Zeichnung von Papa Acevedos, einem guten Freund ihres Großvaters, prangt dieses gigantische Bildnis ihres Drachen. An einem dieser Tage jedoch bemerkt Sierra eine Veränderung. Papa Acevedos Bild scheint zu verblassen. Seine Lippen hängen herab und eine Träne rinnt über seine Wange. Kann das sein?
Seit seinem Schlaganfall sitzt Sierras Großvater Lázaro nur noch in seinem Zimmer. Kein zusammenhängendes Wort kommt mehr über seine Lippen. Dennoch besucht ihn die Enkelin regelmäßig. An einem der guten Tage spricht Lázaro eine Warnung aus. Sierra ist überrascht. Deutlich gibt er zu verstehen, dass sich das Mädchen mit dem stillen Zeichner und Klassenkameraden Robbie zusammentun soll, um ihre Zeichnung zu vervollständigen. Denn wenn nicht, sind bald alle verloren.

Die Welt:
Daniel José Older siedelt seine Geschichte in Brooklyn an. Eine soziale Umgebung, die von gewalttätigen Mitteln geprägt ist.
Die Protagonistin Sierra ist puertoricanischer Abstammung. Sie trägt einen Afro, dazu Faltenrock, Springerstiefel und ein T-Shirt mit abgerissenen Ärmeln. Ihre beste Freundin Benni hingegen hüllt sich in eine Bügelfaltenhose, Button-Down-Hemd und Hornbrille. Dennoch wirken beide Protagonisten ziemlich cool. Sie besuchen in ihrer Freizeit Partys, auf denen Emo-Rock und Hiphop gespielt wird und Beatbox- und Freestylebattles die Zeit vertreiben.
Ihre Zeit verbringt Sierra gerne in der Nähe eines alten Schrottplatzes. Hier sitzen die Freunde von ihrem Großvater an einem Tisch und spielen Domino. Sierra hingegen witmet sich gerne ihrer Graffiti-Zeichnung am verlassenen Rohbau des nahestehenden fünfstöckigen Turms.
Überhaupt vermittelt Daniel José Olders Geschichte einen so ganz anderen Flair als handelsübliche Jugendbücher. Hier achtet die Jugend die Alten und ihre Ahnen. Die Freunde von Sierras Großvater sind keineswegs gebrechlich, sondern haben es stattdessen faustdick hinter den Ohren. Sie nennen sich die Domino-Krieger. An ihrem Stammtisch bleibt stets ein freier Platz für die ausgeschiedenen Teilnehmer der Runde erhalten. Auch Ermittlungen unternimmt Sierra im weiteren Verlauf gerne mit einem von Großvaters Freunden. Während das junge Mädchen eher planlos voranschreitet, scheut der Alte vor schnellen Autofahren, Lügen und Ideen, die die Polizei in die Irre führen, nicht zurück.

Schreibstil:
An Daniel Josés Schreibstil musste ich mich gewöhnen. Des Öfteren liest man spanische Sätze, die die puerto-ricanische Abstammung der Protagonistin und ihrer Verwandtschaft vergegenwärtigen. Die Art, wie die Charaktere miteinander umgehen, war interessant zu beobachten. Ganz besonderen Wert legt man in Sierras Umfeld auf die verstorbenen Ahnen. Alt und Jung bringen sich gegenseitig Respekt entgegen. Dass Manny, ein Freund ihres Großvaters gemeinsam mit den Jugendlichen „abhängt“ und ein Graffiti vervollständigt, ist normal. Am Küchentisch werden intergenerationell Themen wie Patriarchat, Rassenidentität und moralische Dilemmata behandelt.
In "Stadt der tanzenden Schatten" erwachen die gezeichneten Graffiti zaghaft zum Leben. Ihre Farben verblassen, die Mundwinkel ziehen sich nach unten, sogar eine Träne löst sich aus dem Auge eines Bildnisses. Erst fragt sich Sierra, ob sie sich diese Veränderung einbildet. Doch nach und nach stellt sich heraus, dass mehr hinter den Geschehnissen steckt. Auf Ratschlag des Großvaters unterhält sich das Mädchen mit dem stillen Mitschüler Robbie. Gemeinsam mit ihm soll sie die Zeichnungen am Turm vervollständigen. Robbie und Sierra kommen sich näher. Eine zaghafte Freundschaft entspinnt sich. Eine Liebesgeschichte wird angedeutet. Auch, wenn Sierra bald den Drang verspürt Robbie zu küssen, so werden Leser, die sich nach einer emotionalen Geschichte sehnen, hier eher enttäuscht werden. Im Fokus der Geschichte steht eher das Lösen von Rätseln, Ahnenforschung und ein Abenteuer. Weniger fesselnde Gefühle.
Mit einer Äußerung ihres aufgrund eines Schlaganfalls verstummten Großvaters beginnt für Sierra ein großes Rätsel. Sie erblickt ein mysteriöses Foto, auf dem sie jemanden wieder entdeckt, der ihr zuvor in einer ziemlich furchteinflößenden Erscheinung begegnet ist. Einige der Gesichter sind merkwürdig verschmiert. Sierra hört von den Schattenbildnern und außerdem verspricht der Großvater, dass „Lucera“ Sierra helfen wird. Wer oder was ist Lucera, was sind die Schattenbildner? All das wird Sierra über die Geschichte hinweg erforschen. Auch scheinen es die bösen Kreaturen, die plötzlich vermehrt auftauchen auf sie und Robbie abgesehen zu haben.

Fazit:
Mit der Protagonistin Sierra und dem Setting in der puertoricanischen Gemeinde fügt Daniel José Older dem Genre Jugendbuch interessante neue Facetten hinzu. Ahnenforschung, Rassenidentität, aber auch zwischenmenschliche sowie intergenerationelle Solidarität werden hier behandelt.
Die fantastische Komponente lebt von der Idee, dass Graffiti-Zeichnung zum Leben erwachen. Ein Großteil der Handlung wird durch die Ermittlungen von Sierra bestimmt, die zu begreifen versucht, warum sich ihre Welt von einem Tag auf den anderen so verändert.
Ich empfehle dieses Buch Leser/innen, die in eine etwas andere Welt abtauchen möchten und sich nach Neuem auf dem Jugend-Fantasy-Markt sehnen.