Rezension

Grandiose Dystopie: wenn Engel, die Symbole der Gnade, zum leibhaftigen Grauen werden....

Angelfall - Susan Ee

Angelfall
von Susan Ee

Pro:
Wer "Die Tribute von Panem" gelesen hat, könnte schnell auf den Gedanken kommen, dass Katniss Everdeen und Penryn Young sich sehr ähnlich sind: Beide kümmern sich seit dem Verlust des Vaters um eine Mutter, die nicht mehr zurechnungsfähig ist, und eine unschuldige, hilflose kleine Schwester. Beide leben in einer dystopischen Welt voller Gewalt, Hunger und Unterdrückung. Und vielleicht am Ungewöhnlichsten: beide sind (zunächst) keine strahlenden Heldinnen, die sich gegen das Regime stellen wollen oder gar die Welt retten - ihre Loyalität gilt anfänglich ausschließlich ihren Familien und Freunden. Sie begehen Fehler, sie treffen selbstsüchtige Entscheidungen. Sie sind fehlbare junge Menschen.

Aber halt, legt das Buch noch nicht weg oder streicht es von der Wunschliste: Trotz dieser Übereinstimmungen sind "Angelfall" und "Panem" gänzlich unterschiedliche, eigenständige Bücher - beide großartig auf ihre ganz eigene Art! Denn Susan Ee hat sich Vieles einfallen lassen, was ich so noch in keiner anderen Dystopie gelesen habe: zum einen spielt "Angelfall" nicht in einer weit, weit entfernten Zukunft, sondern ziemlich nahe dran an unserer Gegenwart, was es umso erschreckender macht - die Menschen in diesem Buch, das könnten WIR sein! Die Veränderungen sind keine politischen, es geht hier nicht um eine korrupte oder grausame Regierung, die im Laufe einer kriegerischen Geschichte die Macht an sich gerissen hat: die Welt verändert sich quasi über Nacht. Ausgerechnet die Wesen, die in verschiedenen Religionen Sinnbilder der Gnade, des Mitgefühls und der gütigen Macht Gottes sind, fallen über die Welt her wie skrupellose, grausame Monster und legen ganze Landstriche in Schutt und Asche. Und Niemand weiß, warum - will Gott die Menscheit strafen? Oder gibt es gar keinen Gott und die Engel sind wirklich nur perverse Ausgeburten einer unbekannten Welt?

Das Buch hat sehr aktionreiche Passagen, in denen es Schlag auf Schlag geht - und langsamere Passagen, die ich mindestens genauso spannend fand, denn gerade in diesen hat man sozusagen die Muße, einfach nur die halbzerstörte Welt durch Penrys Augen zu beobachten, wobei sich eine beklemmende Stimmung ständiger Bedrohung aufbaut. Der Kampf ums Überleben bringt das Beste und das Schlechteste aus den Menschen heraus, die sie auf ihrer Reise trifft. Gegen Ende des Buches schraubt sich die Spannung immer weiter hoch bis es kaum noch zu ertragen ist, und man erfährt einige Dinge, mit denen man niemals gerechnet hätte (oder zumindest habe ich das nicht).

Die Gewaltdarstellung war oft überraschend und schockierend, aber meines Erachtens nach nicht zu sehr übertrieben - auch wenn ich manchmal wirklich schlucken musste. Einem Jugendlichen unter 14 Jahren würde ich das Buch allerdings wirklich nicht empfehlen!

Die beiden Protagonisten sind großartige Charaktere. Wie schon erwähnt, ist Penryn keine perfekte, unfehlbare Heldin. Sie ist 17 und muss eine Verantwortung tragen, die eigentlich für ihr Alter viel zu schwer wiegt. Schon bevor die Engel einfielen, hat sie jahrelang Kampfsportarten und Selbstverteidigungstechniken studiert - um sich und ihre kleine Schwester gegen ihre schizophrene Mutter verteidigen zu können, deren gewalttätige Ausbrüche sich in ihren Wahnvorstellungen zu oft gegen ihre eigenen Kinder richten.

Es gab ein paar Szenen, wo eine perfekte Heldin Menschen gerettet oder zumindest von ihrem Leiden erlöst hätte - und Penryn schaut weg und geht einfach weiter. Aber mal ehrlich - würde ich als verängstigte 17-jährige mein Leben für Fremde riskieren, wo ich doch meine kleine Schwester retten muss? Oder im Fall, dass eine Rettung gar nicht mehr möglich ist - könnte ich einem kleinen Kind die Kehle durchschneiden oder es erstechen, um ihm einen gnädigen Tod zu schenken? Und Penryn macht auf ihrer Reise eine spürbare Veränderung durch, sie wird sozusagen vor den Augen des Lesers zu einer entschlosseneren, mutigeren Erwachsenen, die weit mehr hinterfragt, als nur noch ihre eigenes Umfeld. Und das hat mir sehr gut gefallen!

Raffe ist weder das grausame Monster, das Penryn erwartet, noch ist er ein typischer Romantasy-Engel. In der typischen paranormalen Romanze hätten sich Penryn und Raffe wahrscheinlich getroffen, sich direkt ineinander verliebt und wären dann gemeinsam entweder ausgezogen, die Engel zu stürzen, oder sie hätten es durch das Vorbild ihrer großen Liebe geschafft, Engel und Menschen zu versöhnen. Oder so. Tatsächlich reisen sie nur gemeinsam, weil jeder etwas hat, was der andere braucht, und andere Gefühle entwickeln sich nur sehr langsam und mehr angedeutet als ausgesprochen. Auch das hat mir sehr gut gefallen, weil es sich viel realistischer anfühlte (und außerdem nicht so vor Kitsch troff).

Der Schreibstil hat mir großartig gefallen und hat mich gar nicht mehr losgelassen. Ich konnte mir alles wunderbar vorstellen, und gegen Ende hätte ich am liebsten direkt weiter gelesen! Ich glaube nicht, dass ich auf die deutsche Übersetzung warten kann.

Kontra:
Gegen Ende erschien mir manches zunächst ZU grausam, ZU unglaublich, aber... Ich denke, es hängt jetzt davon ab, wie es im zweiten Band weitergeht und wie diese Geschehnisse erklärt und eingebunden werden.

Am Anfang hat mich etwas gestört, wie umgangssprachlich Raffe spricht, als sei er wirklich ein junger Mensch und kein uralter Engel. Andererseits stellt sich im Laufe des Buches heraus, dass die Engel die Menscheit über das Fernsehprogramm studiert haben, da haben sie sich dann wohl auch die Sprechweise angeeignet?

Zusammenfassung:
Wer Dystopien gerne liest, sollte dieser wirklich eine Chance geben! Besonders interessant fand ich die Diskrepanz zwischen dem Bild, dass man sich für gewöhnlich von Engeln macht, und der grausamen "Wirklichkeit" dieser Welt.