Rezension

...grandiose Erzählkunst!

Weihnachten in Paris - Georges Simenon

Weihnachten in Paris
von Georges Simenon

„Vielleicht gibt es Paris überhaupt nicht,
und es ist nur eine Erfindung von Simenon.“
The New York Times

Beinah könnte ein Leser, der noch nie leibhaftig in Paris war, tatsächlich den Eindruck gewinnen, diese Stadt wäre der Phantasie eines genialen Kopfes entsprungen.

Simenons „Weihnachten in Paris“: Das ist weit entfernt von „Heile Welt“, romantischen Gassen und sonstigen Weihnachtskitsch. Zwei Erzählungen vereinen sich in diesem Band und unterhalten den Leser. Wobei die Unterhaltung nicht luftig-locker-leicht hereinschneit, sondern sehr dramatisch und brutal ehrlich auftritt. Und doch erzählen beide Geschichten jeweils von kleinen Wundern zur Weihnachtszeit.

Beginnen möchte ich gerne mit der der zweiten, kleineren Erzählung: Bei „Das kleine Restaurant bei der Place des Ternes“ brauchte ich meine Zeit, um die Beweggründe der handelnden Personen zu begreifen. Weihnachten ist die Zeit, in der die meisten Selbstmorde in Paris passieren. Zwei Frauen, die sich vorher anscheinend nicht kannten, werden unfreiwillig Zeuge eines jenes Selbstmordes. Dieses Ereignis veranlasst die ältere der beiden Frauen, die seit einigen Jahren als Prostituierte ihren Lebensunterhalt verdingt, Einfluss auf den Verlauf des weiteren Abends zu nehmen, um der Jüngeren ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Dabei erscheint Simenons Heldin alles andere als heldinnenhaft: Mit ihrem schnoddrig-ordinären Auftreten pfeift sie hemmungslos auf gängige Konventionen.

Simenon erzählt äußerst dicht und detailreich. In der Erzählung „Sieben Kreuzchen in einem Notizbuch“ schafft er eine beinah intime Atmosphäre, indem er die Handlung in nur einem Raum spielen lässt. In der Schaltzentrale der Polizei laufen alle Fäden zusammen. Auf einem Stadtplan blinken Lämpchen auf, wenn irgendwo in Paris an einer Notrufsäule Alarm geschlagen wird. Plötzlich blinken Lämpchen für Lämpchen auf, und die Inspektoren ahnen, dass hier wieder der Serienmörder zuschlägt, der schon seit Wochen die Polizei in Atem hält. Nun wird an der einen Notrufsäule das blutbeschmierte Taschentuch eines Kindes gefunden, und der Fall entwickelt sich in eine gänzlich neue und überraschende Richtung…!

Wäre ich schon ein Simenon-Experte, würde ich vollmundig behaupten, mit dieser Erzählung erlebt der Leser „Simenon at his best“. Ich bin kein Simenon-Experte, aber durchaus in der Lage, eine exzellente Geschichte zu erkennen: Hier ist eine solche…!!! Diese Geschichte habe ich, ohne eine einzige Pause, ohne ein einziges Mal das Buch abzusetzen, gelesen. Seite für Seite steigerte sich die (An-)Spannung bis zum erlösenden Schluss, bei dem mir vor Erleichterung Tränen über die Wangen rannen. Kammerspielartig hat der Autor die Geschichte aufgebaut. Nur durch die Dialoge des Handlungspersonals erfährt der Leser Einzelheiten, die sich außerhalb des Raumes abspielen.

Schonungslos erzählt Simenon vom Leben der kleinen Leute von Paris, von ihren Überlebenskämpfen und Niederlagen, von ihren kleinen Glücksmomenten, die ja so selten und somit umso flüchtiger sind. Grandiose Erzählkunst!