Grandioser Roman um Medizin, Recht und Rechtsprechung im Zeitalter der Aufklärung
Bewertet mit 5 Sternen
Wir befinden uns im Zeitalter der Aufklärung, doch die Schrecken des vergangenen Krieges sind fest im Bewusstsein der Bevölkerung verankert. Der Ruf einer Person entscheidet über Gedeih und Verderben der gesamten Familie. Die junge Anna wird beschuldigt, ihr neugeborenes Kind getötet zu haben. Sie selbst schwört, es sei zum Zeitpunkt der Geburt bereits tot gewesen. Persönliche Rivalitäten des Vaters der Beschuldigten, ein neuartiges medizinisches Verfahren und der ehrgeizige junge Verteidigungsanwalt, dessen Neuerungsgedanken nicht jedem behagen, wirken auf den Fall ein und machen aus diesem mehr als einen der vielen vergessenen Kindsmordprozesse jener Zeit.
Es handelt sich bei dem Roman um keinen historischen Krimi. Vielmehr ist es eine Rekonstruktion des Prozesses und der daran beteiligten Personen. Der Autor nimmt dabei eine ambivalente Stellung ein, einerseits weiß er mehr über den Fortgang und die Ereignisse der kommenden Jahre als die Figuren, andererseits gibt er die Grenzen seines Wissens offen zu. Denn viele der Details sind uns heute nicht mehr zugänglich, da sie schlichtweg von den Beteiligten nicht überliefert wurden. Der Autor vermengt deshalb Fakt und Fiktion und steht offen dazu. Spannend und intensiv wird das jahrelange Ringen um das Schicksal der vermuteten Kindsmörderin geschildert. U.a. sprachliche Konstrukte des 17. Jahrhunderts und der Wechsel zwischen langen und kurzen Kapiteln schaffen einen stets fesselnden Lesefluss und tragen zur Vermittlung der beklemmenden Atmosphäre bei. Man bekommt ein gutes Gespür für den historischen Bewegungsraum der Figuren. Die Dialoge und Marotten der Charaktere sprühen demgegenüber vor Leben.
Am Ende des Buches ist ein QR-Code bzw. ein Link, der zu einer Datei führt in der die verwendete Sekundärliteratur, ein Namensverzeichnis historischer Personen und Abbildungen zu finden sind. Angesichts der Länge des Buches ist verständlich, weshalb der Verlag dies nicht mit in den Roman aufgenommen hat und ich finde es wirklich klasse, dass ich und andere Interessierte so einen Blick auf die Quellen werfen können. Außerdem wird meiner Meinung nach zum Verständnis des Romans ohnehin kein Namensverzeichnis benötigt, da die Anzahl der relevanten Personen doch relativ gering ist. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, im Nachwort auf die Fehlerrate der Lungenschwimmprobe genauer einzugehen.
Alles in allem ein einzigartiger Roman, vorbildlich recherchiert und mit Fingerspitzengefühl und Herzblut geschrieben. Sehr zu empfehlen.