Rezension

Grandioser Thriller à la Hitchcock

Girl on the Train - Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich.
von Paula Hawkins

Bewertet mit 5 Sternen

Ich weiß nicht, wann mich das letzte Mal ein Buch derart in seinen Bann gezogen hat, das ich es in jeder freien Minute (sogar nachts) gelesen habe. Die literarische Neuentdeckung Paula Hawkins schreibt so wie Hitchcock seine Filme inszenierte: Zunächst ruhig und unspektakulär bis sich beim Leser ganz langsam Unbehagen einschleicht und schließlich das Böse in jedem kleinsten Detail zu lauern scheint. Das beispiellose Katz-und-Maus-Spiel, das diese Ausnahmeautorin mit dem Leser veranstaltet, ist schlicht großartig.

Hochspannung mit drei Perspektiven

Erzählt wird die außergewöhnliche Geschichte aus drei Perspektiven. Zunächst treffen wir auf die Protagonistin Rachel Watson, Anfang 40, die aufgrund ihrer Alkoholsucht alles verloren hat: Ihren Mann, ihre Freunde und zuletzt auch noch ihren Job. Nur ihre ehemalige Studienkollegin Cathy hat Mitleid mit ihr und lässt sie bei sich wohnen. Dass man sie gefeuert hat, erzählt Rachel Cathy allerdings nicht - zum einen weil sie sich schämt und zum anderen weil sie Angst hat, dass Cathy sie auf die Strasse setzen könnte. Und so fährt sie jeden morgen mit dem frühen Pendlerzug nach London, um die Fassade aufrechtzuerhalten. Während der Fahrt kommt sie immer an dem Haus vorbei, in dem sie einst mit ihrem Mann Tom lebte, bis dieser mit ihrer ständigen Trinkerei nicht mehr klar kam und sie für Anna verließ, mit der er jetzt eine Tochter hat. Diese Erinnerungen an glückliche Zeiten sind für Rachel sehr schmerzhaft und sie ertränkt sie, wie gewöhnlich, im Alkohol. Das Haus daneben hat es Rachel besonders angetan, denn dort lebt ihres Erachtens ein Bilderbuch-Paar (attraktive blonde Frau mit großem dunkelhaarigem Mann), das Rachel stets wehmütig beobachtet, wenn sie vorbeifährt. Sie beneidet das Paar um ihr Glück, das für sie in wenigen Gesten sichtbar wird, z.B. wenn der Mann seine Hände liebevoll auf die Schultern der Frau legt etc.). Rachel gibt ihnen sogar Fantasienamen - Jess und Jason - und versinkt in Tagträumen. Wenn sie nicht trinkt oder sich Geschichten über das Traumpaar ausdenkt, versucht Rachel, mit ihrem Ex-Mann Tom wieder Kontakt aufzunehmen, der mehr als genervt ist, wenn er hört, dass sie wieder sturzbetrunken ist und mit ihren diversen Blackouts kämpft.

Mysteriöse Beobachtung

Doch dann passiert etwas, das Rachel aus ihrem Alkoholnebel aufwachen lässt. Bei einer ihrer Pendlerfahrten beobachtet sie etwas Merkwürdiges: Sie sieht Jess in inniger Umarmung mit einem Mann, der allerdings nicht Jason ist. Rachel wird rasend wütend auf Jess, weil es ihr unverständlich ist, wie man einen so tollen Mann wie Jason betrügen kann. Ihre Fantasie- und Wahnvorstellungen ergreifen erneut Besitz von ihr, bis sie aus der Zeitung erfährt, dass Megan Hipwell - so der wirkliche Name von Jess - spurlos verschwunden ist. Ihr Mann Scott (Jason) hat sie daraufhin bei der Polizei als vermisst gemeldet. Rachel ist schockiert und ihre Verwirrung wächst. Sie wird von Albträumen gequält, und bei ihrer täglichen Zugfahrt kommen Erinnerungsfetzen zurück, die sie nicht einordnen kann und die sie aufs Tiefste beunruhigen. Ihr letzter Blackout scheint fatal: Wo war sie in der Nacht, als Megan verschwand? Sie wollte doch eigentlich nochmals zu Tom. Woher hat sie die Verletzung am Kopf und wer ist der rothaarige Mann, der ihr auf mysteriöse Weise zur Hilfe eilte?

Weitere Erzählstimmen und ein spektakuläres Ende

Als Rachels Welt sich in einer Abwärtsspirale zu drehen scheint, kommt eine neue Erzählerin ins Spiel: Megan Hipwell erzählt die Geschichte ihrer angeblichen Traumehe und enthüllt nach und nach ihr dunkles Geheimnis, das sie für immer traumatisierte. Die letzte Stimme ist Anna Watson, die neue Frau von Rachels Ex-Mann Tom, die ihre Sicht der Dinge erzählt. Und so wechseln sich Rachel, Megan und Anna mit ihren Erzählungen ab, bis uns schließlich die völlig überraschende und hochspannende Auflösung präsentiert wird, die nicht nur Rachel, sondern auch den Leser atemlos zurücklässt, denn das spektakuläre Ende des Romans hat es wirklich in sich.

Beispiellose Tour de Force

Dieser Thriller gehört für mich zu den besten, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Er ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Die Figur der Rachel ist ganz besonders gut gelungen. Ihre wirren Erzählungen sind eine Herausforderung für den Leser, denn sie ist eine äußerst unverlässliche fiktive Figur. Im Alkoholrausch erzählt sie ständig Dinge, die sie dann einige Seiten später wieder verwirft bzw. in Frage stellt, so dass man sich als Leser nie sicher sein kann, was Rachel tatsächlich gesehen oder erlebt hat. Und so müssen wir - wie auch Rachels Umfeld im Buch - genau lesen und versuchen, uns selbst ein Bild der Geschehnisse zu machen. Dieses undurchsichtige Puzzle zusammenzusetzen, ist nicht nur spannend, sondern vor allem sehr unterhaltsam. Ich habe mich oftmals dabei ertappt, wie ich - genau wie ihr Ex-Mann Tom - einfach angewidert von Rachel war und ihr Alkoholgefasel und ihr gingetränktes Selbstmitleid nicht mehr ertragen konnte. Doch genau dieses Gefühl relativiert sich, sobald Rachel sehr, sehr langsam wieder festen Boden unter den Füßen gewinnt und mit aller Macht versucht, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Bis dahin ist es allerdings ein weiter Weg - doch es ist mehr als lohnenswert, ihn gemeinsam mit Rachel bis zum Ende zu gehen.