Rezension

Großartige Chronik

Columbusstraße -

Columbusstraße
von Tobi Dahmen

Bewertet mit 5 Sternen

Als Tobi Dahmen in Utrecht 2015 einen Anruf aus Düsseldorf erhält, eilt er überstürzt in sein Elternhaus;  denn sein Vater Karl-Leo (*1932) liegt im Sterben. Rückblicke führen in Karl-Leos Kindheit im Stadtteil Oberkassel, wo der 1923 Geborene mit zwei älteren Brüdern und einer Schwester in bürgerlich-katholischem Umfeld aufwächst. Sein Vater Karl arbeitet als Rechtsanwalt hauptsächlich für katholische Klienten, so dass er zu Beginn des Nationalsozialismus verwundert reagiert, dass er – ohne sein Wissen – auch jüdische Klienten vertritt. Der 1888 geborene Karl war Teilnehmer des 1. Weltkriegs;  die Vorfahren seiner Frau Lissy  geb. Brand waren Fabrikbesitzer u. a. in Breslau. Ein Familienstammbaum mit Vätern, die im 1. Weltkrieg „dienten“ und Söhnen als Wehrmachtssoldaten des 2. Weltkriegs kann beispielhaft für viele deutsche Familien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen.

Auf der Basis von Briefen, Tagebucheintragungen seiner Großmutter und Erinnerungen von Karl-Leo Dahmen hat der Autor die Chronik seiner Familie in den Jahren 1935-1945 recherchiert. So treffen wir seinen Großvater Karl, stets mit Fliege, Hut und Nickelbrille unterwegs, in seinem Herrenclub und erfahren, dass er aus religiösen Gründen dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstand. Die 1921 und 23 geborenen Söhne sollten als Nachfolger der Kanzlei aufgebaut werden, auch um den Preis traumatisierender Internatserfahrungen. In Breslau folgen wir parallel dazu der mütterlichen Linie mit Heinz und Lore Funcke und ihren 1936 und 1940 geborenen Kindern. Ab 1940 werden Eberhard und Peter zur Wehrmacht eingezogen, Marlies arbeitet als 16-Jährige im Kriegshilfsdienst und wird ihre Familie erst Jahre später wiedersehen. Das Nesthäkchen wird, ungewöhnlich  privilegiert, zunächst zu Bekannten in den Westerwald evakuiert. Eindringlich wirken, neben bedrückenden Kriegserlebnissen der älteren Brüder und Bombenangriffen  auf Düsseldorf 1943,  bereits Karl-Leos Beobachtungen auf seinem Schulweg als 10-Jähriger; er beobachtet  Zwangsarbeiter bei Aufräumarbeiten, Flüchtende und Warteschlangen vor Lebensmittelgeschäften.

Tobie Dahmen schont seiner Leser:innen weder vor den Kriegserlebnissen seiner Onkel noch vor dem Todesurteil wegen Wehrkraftzersetzung gegen Nennonkel Ewald Huth, in dessen Familie Karl-Leo Schutz vor den Bombenangriffen auf Düsseldorf erhielt. Beeindruckt haben mich neben doppelseitigen Panoramen besonders die leidgeprägten Gesichter.  Dahmens Figuren  altern durch die Kriegsereignisse und magern im Laufe der Handlung sichtlich ab. „Columbusstraße“ erzählt (typisch für die Epoche) die Geschichte junger und alter Männer, in der Frauen Nebenrollen spielen und durch ihr Schweigen weniger gut wegkommen. Überdeutlich zeigt die Gegenüberstellung von Zeichnungen und Dokumenten die Widersprüche damaliger Ideolgie auf, wenn z. B. auf dem Russland-Feldzug Peters Kamerad auf Wache zu Eis erfriert, er in - zensierten - Briefen in die Heimat  jedoch die Fassade  von Propagandafloskeln aufrecht hält. Ein sehr ausführliches Glossar ergänzt  den Bild-Teil des Buches und weist auf eine mögliche Fortsetzung der Chronik hin.

Fazit

Durch die Reduktion auf Schwarzweiß-Zeichnungen und Wiedergabe von Originalbriefen  und   -dokumenten wirkt Dahmens vorbildlich recherchierte 500-Seiten-Chronik absolut authentisch.