Rezension

Großartiges literarisches Kriegstagebuch aus Charkiw

Feuerpanorama -

Feuerpanorama
von Sergej Gerassimow

Bewertet mit 5 Sternen

Vom Beginn des Krieges bis Mitte April in Charkiw / Ukraine – ein literarisches Kriegstagebuch voller Eindrücke, Beobachtungen, Gedanken

Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich schreiben: ein wunderbares Buch. Doch das passt nicht. Aber es ist ein persönlicher Tatsachenbericht, den ich rundherum nur loben kann. Dabei stapelt der Autor tief, er schreibt im Vorwort, es sei ein schnell, unter Bombenhagel geschriebenes Buch, daher ehrlicher, weil keine zweite Schicht von Korrektur darüber läge. Um so mehr habe ich mich gewundert, von welch literarischer Qualität es ist.

Der Autor nimmt uns in seine geliebte Heimatstadt Charkiw mit, die zweitgrößte Stadt im Osten, nicht weit von der russischen Grenze, beschreibt die Kriegsschäden, das mühsame tägliche Leben, das Schlangestehen für Wasser, Nahrungsmittel, Medikamente – unvorstellbar für uns im Frieden und Wohlstand lebenden Menschen.

Der Autor versteht es, dem Leser die ganze Bandbreite eines solchen mühseligen Lebens unter ständiger Angst zu vermitteln, die Banalitäten des Alltags, die Gefühle, die Gedanken, die Angst, der Mut, die Wut und ja, auch Hass.

'Das Gefühl in meinem Herzen ist wie schwarze Tinte, die vom Grund eines tiefen Sees aufsteigt und sich nicht mit dem klaren Wasser vermischt.' (88)

Er erzählt auch von Erinnerungen, nicht als Selbstzweck, sondern als Kontrast zum mühsamen Leben, wie es jetzt ist. Dabei lernt man als Leser ganz nebenbei einiges über Charkiw und Umgebung. Der Autor selbst ist russischsprachig, hat als kleines Kind eine Zeit in Kursk verbracht und hat selbst die russische Indoktrination und vergiftete Propaganda im Kindergarten, in Geschichten, Büchern und Liedern erlebt (130). In diesem Zusammenhang ist es schockierend, seine Berichte von Menschen zu lesen, die das Offensichtliche leugnen und auch noch behaupten, die Ukrainer (die Nazis) würden selbst Bomben auf ihre eigenen Leute werfen. Dafür finde ich keine Worte mehr, aber man hat ja selbst schon solche Äußerungen im Video gesehen und gehört.

'Ein Teil von ihnen ist vom russischen Fernsehen vergiftet, das so tödlcih ist wie konzentrierte Abgase.' (33) - 'die giftige Milch der russischen Fernsehpropaganda' (101)

Dieses Buch ist mal sachlich, mal emotional, mal fast lyrisch, mal nachdenklich und schildert den Schrecken mal sarkastisch, mal in poetischen Tönen.

'Alles hier besitzt eine filmische Qulität von Unwirklichkeit' (21)

'Es handelt sich also um den wahrscheinlich sinnlosesten Krieg der Geschichte. Die Russen kämpfen gegen Dinge, die es gar nicht gibt.' (16)

Ich hatte mir dieses Buch ausgeliehen, habe es aber dann gekauft, nicht nur weil ich es hervorragend finde, sondern auch, weil ich damit einen ukrainischen Autor ein wenig unterstützen kann. Ich wünsche diesem Buch viele, viele Leser und ich denke an den Autor und seine Familie und wünsche ihnen alles Gute.

Hier ein Interview mit Sergej Gerassimow:

https://www.nzz.ch/feuilleton/sergei-gerasimow-ich-habe-angst-vor-atombo...