Rezension

Grundverschiedene Menschen in einer aussichtslosen Situation

Die Flutwelle
von Mikael Niemi

Bewertet mit 4.5 Sternen

Es wird schwarz werden um die Betroffenen als würde eine Lampe gelöscht. Für sie wird es keine Bedeutung mehr haben, ob der Dammbruch auf technisches oder menschliches Versagen zurückzuführen ist. In Nordschweden ist ein Staudamm des Lule älv gebrochen (Stichwort: Stora harsprånget); weitere Dämme werden wie Dominosteine fallen. In seinem Katastrophenszenario formuliert Mikael Niemi gegen die Zeit an. Solange die Vorgänge akribisch in allen Einzelheiten beschrieben werden und solange noch Seiten im Buch zu lesen sind, wird doch hoffentlich die eine oder andere Person noch eine Überlebenschance haben, so hoffte ich. Als würde der nahende Tod die Sinne schärfen, beobachtet der Autor jede Regung, jede Geste seiner Figuren. Da ist Vincent, der Hubschrauberpilot aus der Nähe des Polarkreises, der sich kurz zuvor in einen gnadenlosen Rosenkrieg gegen seine Frau gesteigert hatte. Die erwachsene Tochter Lovisa des Paares erwartet ein Kind; sie kämpft gegen die nahenden Fluten um zwei Leben. Barney arbeitet für den Vattenfall-Konzern, den Betreiber des Wasserkraftwerks. Niemi folgt jedoch nicht den Gedanken eines Kraftwerksexperten, sondern einer Person, die im Moment des nahenden Todes völlig die Kontrolle verliert. Lena war im strömenden Regen mit einer Malgruppe am Fluss. Sie wandelt sich in der Ausnahmesituation zur Karikatur einer ausgebrannten Städterin auf der Suche nach spiritueller Erleuchtung. Evelina wird vom Gedanken an ihre Tochter vorangetrieben, die an einem nicht näher beschriebenen Ort auf sie wartet. Adolf stammt aus einer Lappenfamilie, deren Lebensweise er schon lange hinter sich gelassen hat. Adolfs gepanzertes Luxus-Auto kann ihm im Moment der Katastrophe kaum Rückhalt bieten, so wie die Häuser, Autos und Handys der anderen nun nutzlos geworden sind. Selbst eine Ausgabe von Niemis eigenem Bestseller-Roman wird von den Wassermassen mitgerissen. Die Hütte von Hjalmar, dem Sturkopf, selbst mit Hammer und Nägeln gebaut, nimmt in der Handlung eine eigene Rolle ein. Wie schade, dass Hjalmar nicht mehr erleben kann, wie stabil sein Häuschen geworden ist.

Niemis detailverliebte Schilderungen wirken schmerzhaft exakt. Er seziert teils absurde Gedanken seiner Protagonisten an die Werkzeuge von Steinzeitmenschen oder daran, wer von einer Lebensversicherungssumme profitieren wird. Die Absurdität und Obszönität der Geschehnisse hält einem selbst den Spiegel vor. Würde ich aus einem im Wasser versinkenden Auto flüchten können – und wohin? Würde mein Leben deshalb zu Ende sein, weil ich nichts über die Benzinleitung eines Bootsmotors weiß? Es sind allgemeingültige Fragen, die Niemi aufwirft, ob das Miterleben eines fremden Todes schlimmer sein kann als der eigene Tod, oder welche Grenzen wir zu überschreiten bereit sind, um uns selbst zu retten.

Das Denken und Handeln grundverschiedener Menschen hat das Buch für mich zu einer spannenden Lektüre gemacht.