Rezension

Guckloch in eine andere Zeit

Die Schlange von Essex - Sarah Perry

Die Schlange von Essex
von Sarah Perry

Bewertet mit 4.5 Sternen

London im Jahr 1893. Nach dem Tod ihres Mannes verlässt Cora Seaborne die Hauptstadt und reist gemeinsam mit ihrem Sohn Francis in den Küstenort Aldwinter. Als Naturwissenschaftlerin und Anhängerin der provokanten Thesen Charles Darwins gerät sie dort mit dem Pfarrer William Ransome aneinander. Beide sind in rein gar nichts einer Meinung, beide fühlen sich unaufhaltsam zum anderen hingezogen.

Dass sich an diesem Buch die Geister scheiden, habe ich schon recht früh bemerkt: die einen loben die Sprache und die Story, die anderen finden alles eher langatmig und oberflächlich. Deswegen habe ich das Lesen auch lange vor mir hergeschoben, weil ich mir viel von dem Buch versprochen habe und nicht enttäuscht werden wollte. Zum Glück habe ich dann doch die erste Seite aufgeschlagen und das Buch innerhalb weniger Tage durchgelsen! 

Erstmal muss gesagt werden, dass die obige offizielle Beschreibung nur an der Oberfläche kratzt, der etwas ausführlichere Klappentext tut es da schon eher. Die Story ist aber so vielfältig, dass es auch sehr schwer wäre, sie geeigneter zusammenzufassen. Cora und William sind nur Teile der Geschichte. In der Beschreibung klang alles sehr extrem - dass sie sich ständig streiten und dann aber in wilder Liebe zueinander entflammen, so in etwa hatte ich mir das vorgestellt. Gott sei Dank ist das aber nicht so. Cora und William haben ihre Reibereien, weil sie, vor allem Cora, starke Persönlichkeiten sind, und ja, sie fühlen sich zueinander hingezogen, aber die Geschichte um ihre Beziehung wird sehr ruhig entrollt und wirkte auf mich sehr wahrscheinlich und authentisch. 

Neben den beiden gibt es noch weitere Erzählstränge: den um Martha, Coras Freundin und wohl einmal so etwas wie Francis' Kindermädchen, die eine überzeugte Sozialistin ist und endlich etwas an den Lebensbedingungen der "unteren Schicht" Londons ändern will; Francis, Coras Sohn, der einige Eigentümlichkeiten aufweist und allen etwas unheimlich ist; Dr. Luke Garrett, der sehr ambitioniert ist, was medizinische Fortschritte anbelangt und sein traurig verliebter Freund und Kollege, und nicht zu vergessen: Stella, Williams Frau, und ihre Kinder. Daneben spielen eine Reihe weiterer Figuren mit; stammen sie aus Aldwinter, drehen sie sich größtenteils um die Legende um die "Schlange von Essex". Das klngt erst einmal sehr viel, macht beim Lesen aber keine Mühe: die Personen werden nacheinander eingeführt und ich konnte sie immer gut unterscheiden. Die vielen Erzählstränge laufen nicht, wie das häufig ist, nebeneinander her, sondern sind schön ineinander verflochten, auch wenn sie manchmal nichts miteinander zu tun haben. Auf mich wirkt das Buch wie ein Guckloch in das viktorianische Zeitalter; man sieht nur einen kleinen Teil: ein bisschen hiervon, ein bisschen davon - ein bisschen Gesellschaft, ein bisschen Liebe, ein bisschen Aberglaube und Religion. Ein wenig, als würde man in einem übervollen Schmuckkästchen stöbern. 

Sarah Perrys Schreibstil gefällt mir außerordentlich gut: sie wechselt zwischen den Personen oft mitten im Satz, was bei ihr sehr elegant wirkt. Man fühlt sich einerseits, als würde man von oben auf alles herabschauen, dennoch bleibt es nie oberflächlich: ich meinerseits empfand die meisten Personen als gut ausgearbeitet und plausibel handelnd. Durch Briefwechsel wird die Geschichte weiter vorangetrieben. Die Autorin unterteilt die Geschichte in große Teile, innerhalb dieser Teile in die Monate, in denen die Handlung spielt, und innerhalb der Monate in Kapitel, ohne Auslassungen. Besonders schön fand ich, dass es mit Beginn beinahe jeden neuen Monats ein erstes Kapitel gab, das im Präsens geschrieben wurde und als eine Art Übersicht gestaltet wurde: In Aldwinter geht es wie immer so und so zu, währenddessen setzt sich Martha für dies und jenes ein, und Williams Frau sitzt am Fenster und so weiter. Danach ging es wieder im normalen Tempo weiter. Besonders in diesen Abschnitten, aber auch im restlichen Buch, glänzt Perry mit ihren Landschaftsbeschreibungen: ich fühlte mich etwas an DuMaurier erinnert. 

Die Atmosphäre ist meist ruhig und etwas schaurig, die Schlange von Essex und die Angst der Bürger ein guter Aufhänger. Besonders, wenn aus Sicht der Kinder erzählt wird, war ich fasziniert und abgestoßen zugleich.

Einen kleinen Abzug gibt es wegen dem Ende, was ja auch der häufigste Kritikpunkt ist. Die Geschichte hat sich so ruhig entrollt wie ein langer Teppich, aber das Ende wird einfach aufgeklappt, um beim Vergleich zu bleiben: da ging plötzlich alles etwas schnell. 

Ansonsten ein Roman wie für mich gemacht, den Britischen Buchpreis kann ich voll und ganz nachempfinden - aber auch, dass anderen Lesern alles einfach zu ruhig ist und ein eindeutiger Höhepunkt ausbleibt.