Rezension

Gut lesbare Chronik der Zeit bis August 2020 mit eher knappem Ausblick

Lockdown -

Lockdown
von

Bewertet mit 4 Sternen

Die zusammenfassende Rückschau auf die Zeit bis August 2020 beginnt mit einem Prolog, der Mitte März des Jahres im Kanzleramt spielt, und blickt kurz zum Beginn des Jahrhunderts zurück, als unter dem Eindruck des international agierenden Terrorismus Zivil- und Katastrophenschutz ebenso wie Seuchenprävention für wenig relevant gehalten wurden. Unter dem Eindruck des zweiten Lockdown in Deutschland mag sich mancher fragen, wie es passieren konnte, dass innerhalb von weniger als 20 Jahren das Wissen von Katastrophenschützern und Virologen völlig aus dem Focus verschwinden konnte. Seit SARS im Jahr 2002 hätte jeder aufgeweckte Bürger zum Thema Pandemien die Stichwörter Pflegepersonal schützen, Reiseverkehr kontrollieren und international kooperieren im Kopf haben können - siehe Spillover.

Im Reportagestil mit Focus auf Einzelpersonen und deren Umfeld listet hier ein Team von Spiegel-Redakteuren wie auf einem Zeitstrahl die Ereignisse seit Januar 2020 auf, als noch viele Europäer annahmen, China hätte in Wuhan ein Problem, das sie selbst nicht betrifft. Mit Webasto, Ischgl, Heinsberg kommen die Einschläge näher bis zur Verkündung des Kontaktverbots im März 2020. Auf diesem Zeitstrahl lässt sich beim Lesen die eigene Betroffenheit, das eigene Wissen jener Zeit einordnen – und unübersehbar auch das Zögern der Bundesregierung und die viel zu lange Reaktionszeit von Politik und Behörden auf die Pandemie erkennen. Wie der Flickenteppich der Einzelentscheidungen bildet auch die komprimierte Zusammenstellung der Autoren ein Bild von Reibungsverlusten, zu langen Entscheidungswegen, mangelnder Kooperation in Europa und ganz speziell dem Widerspruch zwischen verantwortlichem Handeln in einer globalen Krise und einem politischen System, das auf den nächsten Wahltermin fokussiert ist.

Wer die Ereignisse verfolgt und ein gutes Gedächtnis  hat, wird aus der Rückschau wenig Neues erfahren. Interessant wird der als Bilanz ausgelegte Epilog von rund 30 Seiten. Geordnet in die Themen Klima, Katastrophenschutz, Bürger und Politik, Europa, Bildung fassen die Autoren zusammen, welche Schwächen in der weltweiten wie europäischen Zusammenarbeit, im föderalen System der Bundesrepublik und in einer zunehmend zwischen Gewinnern und Verlierern gespaltenen Gesellschaft einem verantwortlichen Handeln im Wege standen. Sich auf die Schulter zu klopfen und die liberale Demokratie für grundsätzlich überlegen zu halten, dafür besteht m. A. nach gerade mitten in einer zu lange unterschätzten Pandemie kein Anlass.

Der Reportagestil mit kurzen Absätzen lässt sich gut lesen, balanciert nach meinem Empfinden jedoch zu stark an der Grenze zum Boulevard-Journalismus. Die Chance, im Ausblick auch die eigene Branche kritisch zu hinterfragen, nutzen die Autoren leider nicht. Das Erzählen in persönlichen Geschichten kann Gruppen und Branchen Aufmerksamkeit verschaffen, die zu leicht übersehen werden (Krankenpflege, Schulen, Alte, die Erkrankten selbst). Die Pandemie hat jedoch gezeigt, dass im hektischen Tagesgeschäft (in einigen Medien) nicht immer journalistische Ethik das Handeln bestimmte und manche S*u durchs Dorf getrieben wurde, der eine Gegendarstellung hätte folgen müssen. Zu einer Zeit, in der Bürger zunehmend meinen, wissenschaftliche Erkenntnisse wären abwählbar, wenn einem die Ergebnisse nicht passen, bietet das Spiegel-Buch insgesamt einen komprimierten Rückblick und benennt Organisationsmängel, die die weltweite Krise an die Oberfläche spülte. In der Natur einer Chronik liegt es, dass sie auch frühere Annahmen aufzeichnet, die inzwischen durch Fakten überholt wurden; den Abgleich müssen die Leser selbst vornehmen.