Rezension

Gut lesbare Homestory eines Neurowissenschaftlers

Der Junge, der zu viel fühlte - Lorenz Wagner

Der Junge, der zu viel fühlte
von Lorenz Wagner

Bewertet mit 3.5 Sternen

Anat und Henry Markram bekommen einen Sohn, der die Geduld seiner Umgebung auf eine harte Probe stellen wird. Kai braucht eine strenge Routine, von der nicht abgewichen werden darf. Er reagiert höchst empfindlich auf äußere Reize, spricht für sein Alter zu schlecht und wirkt trotz großen Bewegungsdrangs motorisch ungeschickt. Schon frühzeitig beobachtet seine Mutter, dass Kai anders in die Welt blickt als ihre anderen Kinder, er scheint nur aus dem Augenwinkel zu sehen. Wie vor ihnen viele andere Eltern behinderter Kinder auch fühlen die Markrams sich von den Ärzten nicht ernst genommen. Sie werden beruhigt und keiner der Experten beschäftigt sich mit dem Gesamtbild aus Kais ungewöhnlichen Verhaltenszügen. Doch im Unterschied zu jenen Eltern ist Henry Markram selbst Neurowissenschaftler, den das Schicksal seines Sohnes zu verstärkter Forschungstätigkeit antreibt. Auch wenn seine Eltern auf ihrer Farm in Südafrika nicht nachvollziehen konnten, warum ihr Sohn forschen will statt Kranke zu heilen, führt Markrams Tätigkeit ihn von den USA über Israel schließlich nach Lausanne in der Schweiz. Für ein Kind mit autistischen Zügen wie Kai muss das ständige Neubeginnen in wechselnder Umgebung und immer wieder anderen Sprachen Chaos pur gewesen sein. Anat Markram macht dem schließlich ein Ende und geht mit Kai nach Israel, wo von der Weltöffentlichkeit bisher wenig beachtet, die Inklusion Behinderter erstaunlich weit fortgeschritten ist. Henry stürzt sich indes in seine Forschung und geht eine zweite Ehe ein, in der zwei weitere Töchter geboren werden.

Als Laie auf dem Gebiet und Mutter mit Interesse an der kindlichen Entwicklung finde ich, dass der Autor – oder der porträtierte Wissenschaftler? – schon zu Beginn des Buches blinde Flecken zeigen, die sie nicht oder erst spät untersuchen. Als Kai noch im Kindergartenalter ist, reist die Familie mit den Kindern in mehrere asiatische Länder. Dort kommt es u. a. zu gefährlichen Szenen durch Kais Impulsivität, es wird jedoch Ende der 90er bereits deutlich, dass Kai in anderer Umgebung und Kultur erstaunlich gut zurechtkommen kann. Hier hätte sich doch jedes Elternpaar gefragt, was machen die Thailänder anders als wir und wie weit sind wir Eltern und unsere Kultur Teil von Kais Problemen. Hermann Schulz hat diesen Zusammenhang bereits vor 20 Jahren in seinem leicht lesbaren Roman "Iskender" dargestellt. Apropos Elternpaar, die Dominanz des Wissenschaftlervaters hätte Wagner in seiner Betrachtung durchaus kritischer hinterfragen dürfen.

Zu Beginn des Buches ist bereits klar, dass Kais Eltern aus verschiedenen Kulturen stammen und in mehreren Ländern leben. Dass Wagner Henry Markrams besondere Kindheit auf einer abgelegenen Farm in Südafrika erst am Ende des Buches thematisiert, wundert mich jedoch. Die Entdeckung autistischer Züge bei Eltern und Angehörigen autistischer Patienten ist ja nun wirklich nicht neu. Wurde Makram sich dessen wirklich erst 13 Jahre nach Kais Geburt bewusst – oder setzt Wagner die Entdeckung aus dramaturgischen Gründen erst spät ein?

Im Reportage-Stil schreibt Lorenz Wagner eine Art leicht lesbare Homestory eines weltbekannten Neurowissenschaftlers, eine Geschichte, die sich nicht immer entscheiden kann, ob sie dem Wissenschaftlervater huldigt oder über den Sohn Kai schreibt. Wagner kann zweifellos populärwissenschaftlich schreiben. Seine Passagen über das menschliche Gehirn finde ich überraschend gelungen, gerade weil mich erzählende Sachtexte sonst selten überzeugen können. Zum Thema Autismus bringt sein Buch kaum Neues; da seit Silbermans "Geniale Störung" Irrwege der Autismus-Forschung breiten Leserschichten bekannt sind. Hier hätte mich gern eine Vertiefung interessiert, welche Details aus der amerikanischen Autismus-Community Markram bekannt waren und welche nicht. Hoch anzurechnen ist Lorenz Wagner allerdings, dass er die Irrwege verdeutlicht, die durch zu frühe Diagnosen und Zuschreibungen entstehen, bevor die Probleme eines besonderen Kinds umfassend beobachtet und dokumentiert sind.