Rezension

Gut zu lesen trotz bedrückender Thematik!

Drei Tage und ein Leben
von Pierre Lemaitre

Bewertet mit 5 Sternen

Pierre Lematire schreibt gut, beklemmend, aber unaufgeregt, kein bisschen gruselig. Man kann dieses Buch unbesorgt zur Hand nehmen.

Pierre Lemaitre ist ein in Frankreich sehr bekannter Autor, der 2013 mit „Au revoir là-haut“ gleich „Auf Wiedersehen da oben“ mit dem Prix Concourt ausgezeichnet wurde. Seine Figuren sind fein gezeichnete psychologische Porträts. So auch in „Drei Tage und ein Leben“, das das Leben von Antoine nachzeichnet, einem 12jährigen Jungen, der im Affekt einen sechsjährigen Nachbarsjungen, den kleinen Rémi, erschlägt. Das darf man verraten, denn das ist die Geschichte.

Wer nun jedoch eine aufregende Jagd auf den Täter oder eine irgendwie rasant geartete Geschichte erwartet, der hat Pech gehabt. Der ganze Roman ist wie in Zeitlupe geschrieben. Langsam. Detailgetreu. Melancholisch. Aber nicht düster, man kann ihn leicht lesen. Eine tiefgründige Motivationssuche findet nicht statt und dennoch entwickelt sich dem Leser ein aufschlussreiches Psychogramm des jungen Antoine. Es entsteht natürlich auch das Bild des französischen Örtchens Beauval, samt seiner mehr oder weniger typischen Bewohner.

Wem soll man sich als Autor mehr widmen, dem jugendlichen Straftäter und seiner Familie oder der Opferfamilie? Lemaitre wagt das Unerhörte, er fühlt sich in Antoine ein. Und dabei kommt Antoine nicht richtig gut weg. Aber auch nicht schlecht, er ist einfach das, was ein junger Mann ist: einer von uns, einer, der kein Held ist. Entweder lebt er mit der Schuld oder er stellt sich seiner Verantwortung. Er hat die Wahl und er muss die Konsequenzen tragen. Die tragische Kurzschlussreaktion Antoines hat nämlich weitreichende Folgen. Eine Entscheidung führt zur nächsten. So entsteht ein Leben, das Antoine nicht gewollt hat. Er ist es nicht allein, der Fehler macht. Seine Mutter und sein Arzt treffen ebenso weitreichende Fehleinschätzungen der Situation und was was daraus folgernd getan werden müsste. Alle meinen es  so gut .... !

Der Autor stellt Antoine Courtins Leben in drei Zeitabschnitten vor. Diese Abschnitte tun dem Roman gut, denn gerade, wenn man anfängt, ein wenig die Geduld mit dem jungen Antoine zu verlieren, verlässt man ihn und findet ihn in einer anderen Lebensphase wieder. Das ist am interessantesten!

Lemaitre führt uns vor Augen, wie Menschen wirklich sind und handeln. Man kann die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Figur stellen. Sind da nicht Brüche, unlogische Beobachtungen und Einschätzungen? Ja. Aber so sind Menschen, genau so, sie sind nicht die rational gesteuerten Lebewesen wie es u.a. der Humanismus uns verkaufen will.

Sprachlich gibt es manchmal Sätze, die ein wenig seltsam sind, daran merkt man, dass es bei der Übersetzung hin und wieder hapert. Das rechne man nicht dem Autor zu. Deshalb gibt es keinen Punktabzug. Selbstredend ist der Roman vollständig phrasenfrei. Die Übersetzung ist jedoch nicht schlecht, sogar sehr gut, aber hin und wieder, meine ich, bei einer komplizierten Passage den Zeitdruck zu fühlen, der dann doch dazu führt, es bei einer nicht ganz geglückten Formulierung zu belassen.

Fazit: Psychogramm eines Unglücks und eines Menschenlebens, mit hohem Glaubwürdigkeitsfaktor gezeichnet, das mir sehr gut gefallen hat und das trotz der bedrückenen Thematik gut zu lesen ist.

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Klett-Cotta, 2017