Rezension

Guter historischer Roman

Friedhof der Unschuldigen - Andrew Miller

Friedhof der Unschuldigen
von Andrew Miller

Bewertet mit 4 Sternen

In seinem Roman „Friedhof der Unschuldigen“ befasst sich der britische Autor Andrew Miller mit einer Zeit wenige Jahre vor dem Beginn der französischen Revolution.

Jean-Baptiste Baratte kommt Ende des 18. Jahrhunderts als junger Ingenieur nach Paris. Von höchster Stelle erhält er einen heiklen Auftrag. Er soll den „Friedhof der Unschuldigen“ mitten in Paris auflösen, die Gebeine der Toten bergen und abtransportieren und die Kirche abreißen. Die Faulgase verpesten die Luft der umliegenden Straßen, dennoch hängen die Anwohner an ihrem Friedhof. Baratte muss sein Vorhaben nach Möglichkeit geheim halten…

Mit dem Friedhof der Unschuldigen wählt der Autor einen realen Kern für seine ansonsten fiktive Geschichte. Den Friedhof gab es wirklich mitten in Paris, doch durch die stark wachsenden Bevölkerungszahlen, viele Seuchen und Hungersnöte hatte der innerstädtische Friedhof wie viele anderen auch Ende des 18. Jahrhunderts schon längst seine Kapazitäten überschritten. Die Faulgase der Toten, darunter viele Arme, die zuletzt zu Tausenden in Massengräbern beigesetzt worden waren, verpesteten die umliegenden Straßen so sehr, dass der Friedhof geschlossen werden musste. Anschließend wurde der Friedhof geräumt, die geborgenen Gebeine waren die ersten, die in die noch heute zu besichtigenden Pariser Katakomben gebracht wurden.

Dieses reale Ereignis aus der nahen Vorzeit der französischen Revolution nutzt der Autor nun für einen sehr bildhaften Roman, in dem es hauptsächlich um Umbruch, Veränderung und die nahende Zukunft geht. Das teilweise makabre Szenario des Friedhofs und der Ausgrabungen nutzt er dabei als Kulisse für eine düstere, schwere Atmosphäre. Der Friedhof macht die Menschen krank, bringt das schlechte in ihnen hervor. Die Veränderung wird sie retten, so der Tenor. Dennoch, trotz des Gestanks, liegt den Menschen etwas an der längst geschlossenen Begräbnisstätte. Sie verbinden sie mit ihrer Vergangenheit und das stellt Baratte zunächst vor Probleme.

Der Autor erschafft eine sehr authentische Stimmung und fängt den historischen Kontext seiner Geschichte gut ein, ohne ihn jedoch näher zu thematisieren. Er nutzt viele Ereignisse als Metaphern für die Veränderung, die sich auch in Baratte widerspiegelt, während er ein Gleichgewicht zwischen einem modernen Ich, das er zunächst gern wäre, und einem Ich sucht, mit dem er sich wohlfühlt. Der Autor setzt in diesem Roman auf Metaphern als Träger der Tiefgründigkeit, die er mit einer ausdrucksstarken, aber auch anspruchsvollen Sprache und detailreichen, bildgewaltigen Beschreibungen umsetzt, oft über Umwege und Doppeldeutigkeiten. Darin verliert er sich vielleicht sogar ein wenig, denn die ganze Atmosphäre des Romans lässt sich kaum anders als mit Schwere beschreiben. Es ist (be)drückend, dunkel und gelegentlich ein wenig träge. Zu viele Längen kommen auf.

Während die Figuren, insbesondere der Protagonist Baratte, bei manchen Ereignissen emotional regelrecht explodieren und impulsiv handeln, wirken sie an anderer Stelle zu entfernt und hölzern, können den Leser nicht erreichen. Gerade im Mittelteil konnte der Roman durch eine gewisse Distanziertheit nicht überzeugen, es setzte Langeweile ein. Erst nach einem einschneidenden Ereignis im Leben des Protagonisten erlangt die Handlung den Schwung des Anfangs wieder. Das Ende gelingt dem Autor dann hervorragend: Überraschend, bildgewaltig und sehr einfühlsam – mit einer Spur Kitsch, die aber nach all der drückenden Schwere gar nicht als störend empfunden wurde, sondern als Erleichterung.

Fazit: „Friedhof der Unschuldigen“ ist ein anspruchsvoll, sehr bildgewaltig geschriebener Roman, angesiedelt kurz vor dem Einsetzen der französischen Revolution. Der dementsprechend bereits einsetzende Wandel wird gut thematisiert, es gelingt dem Autor aber nicht immer, Längen zu vermeiden. Gute 4 Sterne