Rezension

Guter Roman, aus dem man noch mehr hätte machen können

Der Fremde -

Der Fremde
von Caitlin Wahrer

Bewertet mit 3 Sternen

Schwere Thematik in lesbarere Form, die aber zu wenig triggert

Zuerst wollte ich "Der Fremde" von Caitlin Wahrer unbedingt lesen. Dann war ich skeptisch, ob ich den Inhalt verkrafte. Letztendlich habe ich einen Roman gelesen, der ein schwieriges Thema in eine angenehm lesbare Form bringt - dadurch aber auch Potential verschenkt.
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In "Der Fremde" geht es um sexuellen Missbrauch. Ansich als Thema nichts besonderes. Dass hier ein Mann das Opfer ist, war für mich dann aber doch ein interessanter Aspekt, der mich neugierig gemacht hat. Nick erlebt mit einer Bar-Bekanntschaft eine verhängnisvolle Nacht. Sein Bruder Tony und seine Schwägerin Julia versuchen ihm danach Halt zu geben. Aber die Situation entgleitet ihnen und Ermittler John Rice. Erzählt wird auf unterschiedlichen Zeitebenen. Die Ereignisse im Jahr 2015 sind der Ausgangspunkt. Aus der Retrospektive 2019 betrachtet klärt sich dann einiges.
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Caitlin Wahrer geht die Geschichte sensibel und vorsichtig an. Sie verzichtet auf brutale Darstellungen und Schockmomente, erzählt stattdessen ruhig und beinahe abgeklärt. Vieles bleibt mir dabei zu sehr an der Oberfläche. Ich hatte eine Handlung erwartet, die ans Eingemachte geht, mich physisch und psychisch fordert und mitnimmt. Einerseits war ich froh, dass es nicht so aufwühlend war wie gedacht. Aber etwas mehr hätte es da schon sein dürfen. Der Roman reißt zwar Wunden auf - aber nicht so tief, dass es richtig schmerzt. Es scheint fast so, als sei Caitlin Wahrer in letzter Konsequenz vor ihrem eigenen Plot zurückgeschreckt. 
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Fazit: "Der Fremde" ist ein guter Roman. Er hätte aber noch so viel mehr sein können. Ich habe einen krassen und belastenden Plot erwartet - und eine nett erzählte Geschichte bekommen. Wenn man sich auf das Schlimmste gefasst gemacht hat, ist das etwas enttäuschend - wenn man emotionale Belastung gefürchtet hat, dagegen eine Erleichterung. Ihr merkt: Ich bin zwiegespalten. Das Buch ist gut lesbar, liefert aber angesichts der Thematik zu wenig Trigger.