Rezension

Halb, aber besonders

Das Verschwinden der Erde
von Julia Phillips

Bewertet mit 4 Sternen

Ein besonderer Ort und Erzählstil sind die großen Stärken dieses Romans. Sie übertünchen, wie viele Antworten das Buch dem Leser schuldig bleibt.

Was mich an der Geschichte am neugierigsten gemacht hat, war der ungewöhnliche Handlungsort in der abgelegenen, hintersten Ecke Russlands, von der ich zuvor noch nie gehört habe. Und tatsächlich war es sehr spannend für mich mit diesem Buch dieses Fleckchen Erde zu bereisen und einen Eindruck vom Leben und der Kultur dort zu bekommen. Außerdem ist Kamtschatka eine tolle Kulisse für diesen Roman, der teils von einer Entführung erzählt, sich hauptsächlich aber aus Personen- und Gesellschaftsportraits zusammensetzt – und das auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise.

Mit jedem Kapitel springt die Geschichte einen Monat in der Zeit voran und ins Leben einer neuen Person – einer neuen Frau, genauer gesagt. Denn das Buch widmet sich vornehmlich den Frauen, deren Position in der Gesellschaft und deren Kampf darum das Beste aus ihrem Leben herauszuholen, ohne wertzuschätzen, was sie bereits haben. Das erzeugt einen bedrückenden Unterton, der jedoch nicht gänzlich hoffnungslos klingt und damit für den Leser leichter zu ertragen ist.

Vor allem auch, da die Autorin sehr geschickt vorgeht. Zwar dauert es in jedem Kapitel ein bisschen, um die neue Protagonistin kennenzulernen und sie auf der Halbinsel und innerhalb der Gesellschaft zu verorten, doch dann schafft die Autorin es, mich an deren Leben teilhaben zu lassen. Und gerade dann, wenn ich am dringendsten Antworten auf verschiedenste Fragen möchte, wechselt das Buch zum Leben einer anderen Frau.

So bleibe ich doch immer am Ball, auch wenn die Geschichte sich durch diese Art des Erzählens in die Länge zieht. In jedem neuen Kapitel suche ich nach Verbindungen zu bisher Gelesenem und zu dem Entführungsfall. Ich hoffe und suche nach Lösungen für all die offenen Enden, die mit Fortschreiten der Erzählung immer zahlreicher werden. Am Schluss schließt sich dann doch recht schnell ein Bogen, wenn auch die meisten Fragen unbeantwortet bleiben, ich nicht den Zusammenhang zwischen allen Geschehnissen im Buch finde und der Entführungsfall ein genauso halboffenes Ende findet, wie alle vorausgehenden Kapitel. Das Finale ist damit auch nur halbzufriedenstellend. Trotzdem wird mir das Buch wegen des ungewöhnlichen Stils und des besonderen Handlungsortes in Erinnerung bleiben.