Rezension

Harrys Bäume und Orianas Wald

Die wundersame Mission des Harry Crane - Jon Cohen

Die wundersame Mission des Harry Crane
von Jon Cohen

Bewertet mit 4.5 Sternen

Jon Cohen erzählt eine leise, behutsame Geschichte, die mit einer Tragödie beginnt: ein schrecklicher Unfall reißt Harrys Frau Beth aus dem Leben, und als wäre das noch nicht entsetzlich genug, muss er sich auch noch die Schuld daran geben. Wäre da nur nicht dieser Lottoschein gewesen, der ihm doch Glück bringen sollte…

Jeder, der schon einmal einen Menschen (oder auch ein Tier) zutiefst geliebt hat, kann sich Harrys Pein und seine Schuldgefühle, die sich wie Säure durch seinen Lebenswillen fressen, nur zu gut vorstellen. Den Tod eines geliebten Menschen zu verschulden, das ist der Stoff, aus dem die Albträume sind, aber für Harry gibt es kein Erwachen.

Der Beginn der Geschichte ist daher herzzerreißend und schmerzhaft.

Und Harry ist nicht der einzige Charakter, der trauert. Am gleichen Tag, an dem Beth starb, starb auch Dean, der eine Frau, eine kleine Tochter und einen besten Freund hinterließ.

Wirklich, mir hat in den ersten Kapiteln richtig das Herz geblutet. Umso eifriger habe ich die Seiten umgeblättert, in der bangen Hoffnung auf ein Happy End.

Ein Jahr nach dem Unglückstag begegnen sich die Trauernden – und es entspinnt sich eine Geschichte, die sich liest wie ein modernes Märchen. Das geht vor allem von der kleinen Oriana aus, die an Elfen und Zauber glaubt und immer noch darauf hofft, dass ihr Vater zurückkehren wird. Aber auch Harry wächst über sich hinaus und erlebt ein Abenteuer, wie er es nie für möglich gehalten hätte.

Ich möchte noch gar nicht zu viel von der Handlung verraten, aber das Buch ist einfach wunderbar und berührend.

So nach und nach lernt man einige Menschen aus Harrys Umfeld kennen, die alle in irgendeiner Form etwas mit Beth oder Dean oder ihren Hinterbliebenen zu tun hatten. Trauer und Schuld sind daher durchgehend sehr präsente Themen, die weder verharmlost noch überdramatisiert werden. Beides sind keine schönen Gefühle, aber es sind Gefühle, die zum Leben dazugehören und in der Phase der Trauerarbeit ihren Raum einfordern.

Einige der Charaktere haben auch andere große Sorgen, aber die Geschichte ist dennoch sehr positiv und hoffnungsfroh – denn noch ist doch alles möglich, warum also nicht? Dabei bleibt die Handlung aber immer realistisch genug, um tatsachlich möglich zu sein.

Je mehr sich die Geschichte liest wie ein Märchen, desto wahrhaftiger erscheint sie auch.

Ein Märchen, das Oriana sehr wichtig ist, spielt immer wieder eine Rolle, und mehr als einmal erkennt sich ein Charakter im ‘Grum’, dem unglückseligen Anti-Helden des Märchens, wieder und schöpft daraus Hoffnung. ‘Wenn es für den Grum ein Happy End geben kann, warum dann nicht für mich?’

Und ist das nicht der Sinn eines Märchens, die grundlegenden Wahrheiten des Lebens unterhaltsam zu verpacken?

Die Charaktere sind großartig geschrieben.

Sie alle haben ihre Fehler und Schwächen, aber sie haben auch ihre liebenswerten Eigenschaften – sogar die Antagonisten zeigen Seiten von sich, die versöhnlich stimmen.

Meine Lieblinge waren der kleine Ganove Ronnie, der nicht der Hellste ist, aber ehrlich entschlossen, sein Leben komplett umzukrempeln und ein guter Mensch zu werden, und die alte Bibliothekarin Olive, die lieber auf ihren Lohn verzichtet als ihre Bibliothek zu verlassen, die ohnehin rund um sie herum zerfällt.

Es gibt auch eine Liebesgeschichte, aber die kommt ebenso behutsam und leise daher wie der Rest der Geschichte. Mir hat das sehr gut gefallen, weil es so nicht zu kitschig wird – ich würde sagen, die Liebesgeschichte wirkt dadurch sogar noch schöner und auch glaubhafter.

Positiv erwähnen möchte ich hier auch die Beschreibungen der Natur.

Harry liebt Bäume und Wälder, und in seinen Worten entwickeln die lateinischen Fachbegriffe fast schon eine Art Poesie. Man kann seinen Traum nachvollziehen, sein Leben den Bäumen zu widmen – “Harry’s Trees” heißt das Buch im Original, Harrys Bäume.

Überhaupt hat mir der Schreibstil gut gefallen, er erreicht eine sehr ansprechende Balance zwischen Märchen- und Alltagsthemen, Poesie, Trauer und leisem Humor. Die Sprache ist sehr bildhaft, so dass man sich jeder Szene sehr gut vorstellen kann.

FAZIT

Auch wenn das Buch herzzerreißend traurig beginnt, ist es doch ein Buch, das letztendlich hoffnungsvoll stimmt und sich wunderbar liest. Es geht um Trauer, aber es geht auch um Liebe und Zusammenhalt und Neubeginn, und quasi nebenher erzählt das Buch noch eine märchenhafte Geschichte, die sich liest wie eine moderne Version des Grinch.

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/2018/10/23/rezension-jon-cohen-die-wunde...