Rezension

Hauptmann: „Erwähnte ich, dass ich selbst ein überzeugter Kompromissler bin?“

Wiesenstein - Hans Pleschinski

Wiesenstein
von Hans Pleschinski

Bewertet mit 4 Sternen

Hauptmann: „Erwähnte ich, dass ich selbst ein überzeugter Kompromissler bin?“ S. 331

 

Die Handlung beschreibt die letzten rund eineinhalb Jahre im Leben Gerhart Hauptmanns, zwischen Februar 1945, nach dem Bombenangriff auf Dresden, von wo er mit seiner Begleitung flüchtet in seine geliebte Villa Wiesenstein in seiner Herkunftsregion Schlesien, heute Polen, bis zu seinem Tod am 6. Juni 1945 sowie seiner Beisetzung.

Autor Pleschinski verbindet für seinen Roman:
•die reine Handlung um die Protagonisten rund um Gerhart Hauptmann, dessen Frau Margarete und deren Entourage aus Masseur, Sekretärin, Köchin, Hausmeister etc.
•viele der Werke Hauptmanns - so ausführlich zitiert, dass sie für den Leser einzuordnen sind, geradezu eine Werkschau
•der historische Zusammenhang wird – meist bildhaft – dargestellt, die Situation im zerbombten Dresden, letzte Kriegstage, Flucht, Vertreibung, das Ende des Schlesiens, wie Hauptmann es kannte
•eine geschichtliche Einordnung, Überblicke

Genau hier liegen für mich die Stärken und Schwächen des Romans:
Mir waren von Hauptmann nur Eckdaten geläufig, ich kannte das Haus auf Hiddensee, wusste nichts von Wiesenstein. Ich kannte die „üblichen Verdächtigen“ seiner Werke. Für mich ist es eine starke Leistung, wie Pleschinski das teils in Vergessenheit geratene extrem umfängliche Werk zugänglich macht, begreifbar – eine wundervolle Einladung zur weiteren Lektüre, die Verlage nutzen dies hoffentlich sinnvoll. Problematisch ist dabei für mich aber im Gegenzug, dass einige Konversationen Hauptmanns wie Fiktion daherkommen, sich aber entpuppen als fast wortwörtlich aus seinen Werken entnommen, aber dennoch nicht als Zitate erkennbar sind (wie im Gegensatz dazu die Zitate aus seinen Werken, bei denen das Vehikel genutzt wird, dass jemand vorliest oder Korrektur gelesen wird). Ich beziehe mich zum Beispiel auf die Unterhaltung S. 59f, dies steht fast wörtlich in „Das Abenteuer meiner Jugend“, recht zu Anfang (als Leseprobe gratis im Internet), ich war zufällig darauf gestoßen. Ja, das Werk ist kein Sachbuch – aber was als Roman daherkommt, sollte für mich auch (reine) Fiktion sein, wo es sich so darstellt.

Der Stil des Romans ist durchaus speziell, wohl angenähert an das Thema. Einzelne typische Sätze sind oft sehr deskriptiv, dann fehlt anderen das Verb: „Massiv wirkte Wiesenstein. Und geräumig. Graue Quader als Fundament, Graniteinfassung um die vergitterten Fenster im Erdgeschoss.“ Dann gibt es wieder überbordend lange mäandrierende Sätze: „Annie Pollack hütete sich, schon gar in diesem Moment [d.i. die Ankunft vor Haus Wiesenstein], auf die national-euphorischen, ja nationalsozialistischen Anwandlungen – kaum als fahrlässig oder blindes Eifern zu beschönigen – des Dichters auch nur anzuspielen: Was der Führer verfügte, war besonnene Tat. – Das Hakenkreuz vor der Ostseevilla hätte er nicht hissen lassen müssen, wenn auch diese Unterwerfung oder, schlimmer noch: dieses Bekenntnis, seine Einkünfte sicherte.“ S. 81 Ich habe das Buch deshalb gefühlt mit nur etwa halber üblicher Lesegeschwindigkeit lesen können, der Stil an sich, der Wechsel zwischen fast militärisch-kurz und ausufernd, dazu der Wechsel zwischen Beobachtung der Handlung, Darstellung des Werks und Geschichtsdarstellung tat sein Übriges: ich kam aus dem Lesefluss, empfand die Wechsel als anstrengend, sie bauten Distanz auf.

Gelegentlich trat mir auch der Autor zu sehr hervor: ich lerne gerne anhand von fiktiven Romanen über etwas ODER lese ein Sachbuch; im Roman erwarte ich dafür nicht Fakten, sondern eine realistische, an Fakten orientierte Handlung, anhand derer ich die Fakten beispielhaft erlebe – so der Selbstmord der Bekannten aus Furcht vor den einmarschierenden Russen. Pleschinski stellt das einprägsam dar, dennoch liefert er darüber hinaus häufig eine Geschichtsstunde mit reinen Fakten (die Verschiebung der Grenzen Polens zum Beispiel – das sollte er seinen Lesern zutrauen, selbst wenn eventuell jemand dafür Wikipedia bemühen muss). Das wirkt auf mich steuernd, Einfluss nehmend.

Dazu tritt er in einigen Wertungen hervor: „Wann hatte es begonnen, dass man …in öffentlichen Verlautbarungen einfach geduzt wurde? … Wünschen Sie den totalen Krieg? – Das ohrenbetäubende „Ja!“ wäre gewiss schütterer ausgefallen.“ S. 32f Die Bemerkung an sich finde ich originell, doch insgesamt ist mir das alles etwas zu viel, teils zu gewollt. Da wird dieses Monumentalwerk geschrieben, doch gleichzeitig wird dessen Objekt vorgeführt als in einer Blase lebender Opportunist mit starkem Standesbewusstsein – sicherlich auch, aber speziell die damaligen Standesunterschiede waren gewiss nicht untypisch und allein ein Kokon von Bewunderern hat bis heute andere Prominente weiter in ähnlichen Blasen leben lassen. Rechtfertigt das die Anbiederung an die jeweiligen Machthaber? Nein, aber ich kenne jetzt hauptsächlich die Darstellung nach Pleschinski und ein wenig Wikipedia. Überaus amüsant fand ich hingegen die Passagen über den Kleinkrieg mit Mann oder die Darstellung der völligen Ignoranz der Hauptmanns bei Besuchen der polnischen oder russischen Machthaber, das Hofhalten als Teil einer untergegangenen Welt.

Zusammenfassend fühle ich mich beeindruckt davon, wie tief in die Materie Autor Hans Pleschinksi eingetaucht ist, wie stark er Hauptmanns Werk integrierte und sich stilistisch anpasste. Ich hätte mir etwas mehr Distanz gewünscht hinsichtlich des eigenen Hervortretens und Kommentierens, konnte mit der wohl gewollten Distanz zu den Figuren jedoch durchaus umgehen und habe viel gelernt. Die Lektüre wird sicherlich bei mir weitere Lektüren bedingen, Hauptmann selbst (wobei die späteren Werke eher abschreckten). 4 Sterne