Rezension

Heilsame Vergebung

Mitten im Sturm - Jessica Winter

Mitten im Sturm
von Jessica Winter

Bewertet mit 5 Sternen

Seattle. 
„Ich habe einen Menschen getötet. 
Fünfhundereinundfünfzig Tage lang versuche ich bereits, das Ausmaß dieser Tatsache zu erfassen und doch begreife ich es immer noch nicht.“ An Grace‘ Tür wird „MÖRDER“ geschmiert. Sie ruft nicht nach der Polizei, sie weiß, wer es war, sie geht in den Baumarkt, um Farbe zu kaufen. Das klingt nach einem Krimi. 
Grace und Eric liefern sich einen verbalen Schlagabtauch nach dem anderen, seit sie sich im Baumarkt begegneten und sich später herausstellte, dass Eric und Grace‘ Kumpel Matt Mittbewohner sind. Das klingt nach Liebesroman. 
Die 19jährige Grace Souza hat einen Menschen getötet vor fast zwei Jahren. Sie wurde freigesprochen aufgrund der Umstände, es sei ein Unfall gewesen. Sie leidet seitdem unter Schlaflosigkeit, Selbstzweifeln, Zweifeln, ob es wirklich ein Unfall war. Und sie ist Psychoterror ausgesetzt. Sie kratzt sich, leidet unter Schlaflosigkeit. Das klingt sehr dramatisch. 
Es ist ein Roman von Jessica Winter. 

Es ist mir aus dummen Gründen fast peinlich, aber ich liebe die Bücher von Jessica Winter! Nun, sonst lese ich meistens und Krimis/Thriller und sogenannte anspruchsvolle Romane (wobei Thriller von Andreas Pflüger, „Endgültig“, „Niemals“ schon recht anspruchsvoll sind; während einige der als „Literatur“ eingestuften Werke leicht-locker-unterhaltsam sind, Thomas Klupp „Wie ich fälschte, log und Gutes tat“, oder Leser zu Tränen rührt wie Benedict Wells „Vom Ende der Einsamkeit“). Ergo: ich halte mich wohl für etwas Besseres? Hoffentlich nicht. Die Romane von Frau Winter sind spannend, lustig und haben immer (mindestens) ein gesellschaftliches Brennpunkt-Thema zur Grundlage. Ja, sie sind auch mindestens gefühlvoll, aber keine hohlen Kitschschnulzen. Und: sie macht das sehr geschickt, wie sie das aufbaut, dass man zu den Ursachen hingeführt wird. 
Dazu trifft die Autorin noch Kernaussagen, mitten hinein. „Durch ihn habe ich erkannt, dass Leid uns nicht stärker macht, es uns aber die Stärke zeigen kann, die wir bereits besitzen und in uns tragen.“ Oder Worte wie „Ich lasse dich los“ zu denen, die Schaden verursacht haben. „Vergebung bedeutet viel mehr, den Wunsch aufzugeben, meine Geschichte noch irgendwie ändern zu können, und mich auf die Gegenwart zu konzentrieren.“ Stark die Szene in Massachussetts, die Vergebung gegenüber einem anderen, nicht für diesen, sondern für sich selbst, um frei zu sein. Jessica Winter ist Christin, ihre Hauptfiguren auch, nicht aufgesetzt, durch ihr Handeln, wie sich das gehört. Mich beeindruckt auch das. 

Okaaaay, also ich mag die Bücher, ich mag Gracie, die kratzbürstig ist, lustig, einfühlsam, klug und stur. Sie ist keine kleine Tussi, die auf den Prinzen wartet. Sie hat Mut, will ihr Leben geregelt bekommen. Und Eric sieht irgendwann ein, dass auch jemand mit Schwarz-weiß-Weltbild gelegentlich einmal seine Grenzen übertreten muss, nicht aber die Grenzen anderer. Dazu gibt es noch einen ganzen Schwung sympathischer Nebenfiguren wie Grace‘ Fast-Schwester Maggie oder Erics kleine Schwester Lilly. Insgesamt ein richtig guter Grund, sich so richtig in die schöne Geschichte hineinfallen zu lassen, die mich durch ihre Botschaft beeindruckt und durch die Schreibweise. Ich kann ja danach wieder Literatur lesen oder „Leichen“. Oder noch einmal Jessica Winter, immer gern. 
Das Buch steht für sich allein; allerdings ist die beste Freundin von Grace DIE Julia, die die Protagonistin der „Julia und Jeremy – Reihe“ aus drei Bänden ist. Dieser Band liegt in der Logik „zwischen“ dem zweiten Band, kann aber allein gelesen werden. Wenn man die zwei ersten Bände gelesen hat wie ich, kennt man Grace‘ Geheimnis, wenn man dieses Buch gelesen hat, kennt man das von Julia. Nicht dass das wirklich schlimm wäre – mich hat diees Buch trotzdem sehr bewegt. 
5 Sterne.