Rezension

Herren, Mägde und der Tod - eine Zeitreise

Doppelleben -

Doppelleben
von Alain Claude Sulzer

Bewertet mit 5 Sternen

Die Brüder Goncourt sind die Namensgeber des wichtigsten französischen Literaturpreises. Sie waren eine Ausnahmeerscheinung in ihrer Zeit. Und zwar durch ihre Entscheidung, ehelos zu bleiben und ein symbiotisches (Doppel-)Leben zu führen, in dem sie alles teilten: Ihr mehrtausendseitiges Tagebuch, für das sie berühmt sind, das Verfassen ihrer Romane, die Geliebte, den Wohnsitz. Und Rose, ihre Hausangestellte, die sie bereits von ihrer Mutter übernommen haben.

Als Rose stirbt, müssen die Brüder erkennen, dass sie, die sich für so exzellente Beobachter gehalten haben, nichts von deren Lebensdramen mitbekommen haben - auch Rose führte ein „Doppelleben“. Schockiert über diese Erkenntnis verfassen sie einen Roman über sie: „Germinie Lacerteux“. Dieser, von den Zeitgenossen sehr negativ rezipiert, gilt als der erste naturalistische Roman in der französischen Literatur, von Zola als Einzigem entsprechend gewürdigt. Auch das sichert den Brüdern einen Platz im französischen Olymp.

Sulzer nutzt die Tagebücher und Romane der Goncourts als Quellen. Er ist jedoch nicht angetreten, eine vollständige Romanbiographie der Brüder zu verfassen. Der zeitgeschichtliche Hintergrund wird zwar eingearbeitet und hilft bei der Orientierung, ist aber nicht Sulzers Thema.

Thema ist vielmehr das Leben und die Lebensumstände von Rose im Kontrast zu ihren privilegierten Dienstherren. Zwar waren diese relativ wohlwollend, gaben ihr viel Freiraum und tolerierten ihre (sehr witzig geschilderten) katastrophalen Kochkünste. Aber dennoch erweist sich Roses Leben als extrem und durch und durch tragisch. Rückblenden bis ins Jahr 1837 rollen ihre Geschichte auf, die ansonsten in der historischen Gegenwart nach Roses Tod spielt.

In dieser Gegenwart ereignet sich der ebenso tragische frühe Tod des jüngeren Bruders, Jules. Sulzer schildert sein langsames Sterben im Alter von 39 Jahren an der mittlerweile heilbaren Krankheit Syphilis äußerst realistisch; nie habe ich eine derart eindrückliche Beschreibung dieses qualvollen Todes gelesen und fand das kaum aushaltbar.

Am meisten erschüttert an diesem Roman hat mich allerdings die Darstellung der offenbar unüberwindbaren Kluft zwischen den sozialen Klassen, selbst für derart liberale Geister wie die Goncourts. Die Brüder gingen so in ihrer Welt der gesellschaftlichen Eliten auf, dass sie für Anderes in ihrer Umgebung keine Wahrnehmung hatten.  Rose hingegen, typisch für ihre Klasse, lebt ein trostloses, limitiertes Leben, sie hat kaum Möglichkeiten. Sie selbst kann ihr Leiden nicht einordnen, begreift das Ausmaß des Unrechts nicht, das sie erleidet. Weder Magd noch Herren erfassen das Maß an Ausbeutung, dem sie unterworfen ist. Rose hat einen starken Willen, der sich auf nichts richten darf. Und so will sie das Falsche, das letztlich ihren Untergang besiegelt.

Schlussendlich habe ich den Roman als eine gleich doppelte Geschichte des Niedergangs und Sterbens gelesen: Den von Rose, der Dienstmagd, und den von Jules, ihrem Dienstherren, die beide viel zu jung und an den Folgen ihrer Lebensführung zugrunde gehen. Der Tod nivelliert das soziale Gefälle; eine bittere Ironie.

Das alles geht sehr zu Herzen und wird von Sulzer in eine dem Idiom der Zeit anverwandelte Sprache gefasst. Das hat nichts Altertümelndes, sondern geschieht mit viel Fingerspitzengefühl und bleibt immer gut lesbar. Am Ende hat man nicht so sehr seine Geschichtskenntnisse erweitert – vielmehr ist  „Doppelleben“ ein echter historischer Roman, dem es gelingt, ein Gefühl für die damaligen Zeiten zu vermitteln, jenseits jeder Romantisierung. Und zwar von beiden Seiten der Schranke – von Dienern und Herren.

Eine Bereicherung für alle verhinderten Zeitreisenden.