Rezension

Hinter den Mauern der Salpêtrière

Die Tanzenden - Victoria Mas

Die Tanzenden
von Victoria Mas

Paris, 1885. Jean-Martin Charcot ist Chefarzt am berühmten Hôpital de la Salpêtrière, einer Einrichtung für geisteskranke Mädchen und Frauen. Er wird zu einem Pionier in der Neurologie werden, seine Untersuchungen werden ein Fachgebiet verändern und berühmte Nachfolger wie Sigmund Freud prägen. Legendär sind seine Untersuchungen von Hysterikerinnen vor Publikum, z.B. mit der jungen Louise, die sich vorkommt, wie ein kleiner Star, wenn der Arzt sie auf die Bühne bittet. Pflegerin Genieviève wacht mit Argusaugen und Strenge über ihre Schützlinge, distanziert und kühl geht sie ihren täglichen Aufgaben nach. Eine Bindung zu den teilweise seit Jahren einsitzenden Frauen lehnt sie ab. Es wird schon seine Richtigkeit haben, was die Männer da  entscheiden, egal ob die Ärzte oder diejenigen, die mit einer neuen Patientin vor dem Tor auftauchen, egal ob eine tatsächlich auch nach heutigen Gesichtspunkten als krank zu bezeichnende Person, Vertreter der Gendarmerie, die eine Prostituierte aufgegriffen haben oder auch mal Familienangehörige, die der Meinung sind, „mit der stimmt doch was nicht“ – und dieses „was“ das kann aus unserer Sicht auch so etwas normales und harmloses sein wie der Wunsch nach mehr Selbstbestimmung, Interesse an Bildung oder Literatur – aber beileibe keine neurologische oder psychische Störung. So ergeht es auch Eugénie, einer jungen, wissensdurstigen und etwas streitbaren Neunzehnjährigen, die sich plötzlich hinter den Mauern der Salpêtrière wiederfindet, allerdings auch mit einer besonderen „Gabe“, die für ihre bürgerliche Familie nicht hinnehmbar und rufschädigend ist: Eugénie besteht darauf, dass sie Tote sehen kann, mit ihnen kommuniziert.

Louise, Geneviève und Eugénie sind die Protagonistinnen des Romans von Victoria Mas, der die – für uns heutzutage – unvorstellbaren Verhältnisse und den Umgang mit (vermeintlicher) Geisteskrankheit, den „Irren“ darstellt. Vorgeführt wie im Zoo in öffentlichen Vorlesungen, eingeliefert aus nichtigen Gründen, Scham, Bequemlichkeit und ausgestellt für die feine Pariser Gesellschaft auf einem Maskenball „Le bal des folles“, der für die Patientinnen und die Gesellschaft ein Jahreshighlight darstellt und doch nichts anderes ist als ein grausames Kuriositätenkabinett auf dem Jahrmarkt. Über all dem steht die Prämisse, dass Männer alleine darüber entscheiden, was mit den Frauen und Mädchen zu passieren hat, sie selbst haben keine Stimme, keine Glaubwürdigkeit, niemand steht für sie ein, dazu der medizingeschichtliche Aspekt der Psychiatrie, ein absolut fesselndes und spannendes Thema, toll aufbereitet bis auf ein in meinen Augen doch schon recht massives Manko: Eugénies Geistererscheinungen, die eine große Rolle in der Geschichte spielen und letztlich ihr eigenes und das Schicksal anderer Beteiligter entscheidend beeinflussen. So weit so gut.

Jetzt habe ich nur ein riesengroßes Problem mit dieser einen Sache: ich glaube nicht dran. So gar nicht. Und das Buch stellt es so dar, als sei es eine Tatsache, dass es das gibt, also so im Sinne von „das ist normal“ – und das ist es für mich eben nicht. Schwierig, schwierig. Nun stört es mich nicht sonderlich, wenn jemand sich als Medium sieht, so lange er nicht andere Menschen damit betrügt, ihnen etwas vorgaukelt oder das Geld aus der Tasche zieht. Aber das Ganze als vollkommen realistisches Talent, dass jemand nun mal einfach hat, so wie eine Begabung für Tanz, Gesang, Malerei oder eine Sportart, zu sehen, das gelingt mir nun leider nicht. Bin ich zu agnostisch? mag sein. Aber dieser Umstand hat dann dazu geführt, dass ich recht oft im Laufe der Geschichte dachte … Humbug… .

Daher ist mein Fazit: für mich hätte es Eugénies Talent nicht gebraucht. Sie hätte auch über ihre Klugheit, ihre Eloquenz, einfach ihr Wesen, überzeugen können, ihr zu helfen, denke ich. So ist das ein klarer Minuspunkt für mich, weil mich die Tragfähigkeit, die Glaubwürdigkeit der Geschichte an dieser Stelle einfach verlässt. Wen das nicht stört, oder wer da einfach ein bisschen mehr glauben kann als ich, tut sich vielleicht etwas leichter mit der Akzeptanz dieses Punktes. Ansonsten begeistert der Roman sprachlich und inhaltlich durchaus.