Historischer Schmöker um Leipzig im 17. Jahrhundert
Bewertet mit 4.5 Sternen
Hanns Heinrich Voigt (1632-1709), Besitzer von Gut Greitschütz an der Weißen Elster, galt als Emporkömmling, weil er seinen Besitz von einer kinderlosen Verwandten geerbt hatte, für die er das Gut zuvor verwaltet hatte. Als Voigts Tochter Anna, deren Einfältigkeit betont wird, 1680 als Jugendliche schwanger wird und das Kind vermutlich tot zur Welt bringt, werden sie und ihre Mutter des Kindsmords angeklagt. Anna drohen Folter und Hinrichtung; denn die Verheimlichung einer Schwangerschaft wird bereits als Schuldeingeständnis des Kindsmords gewertet. Sachsen befindet sich 30 Jahre nach Ende des 30-Jährigen Kriegs und nach mehreren Pestepidemien in desolatem Zustand. Dass die Felder durch den Krieg zerstört sind und Landarbeiter fehlen, ist nicht schwer vorzustellen.
Die Standesgesellschaft jener Zeit im Triumvirat aus angesehenen Bürgern, Klerus und Justiz hat offenbar gemeinsam „Kindsmörderinnen“ den Kampf angesagt, um der Bevölkerung ein Feindbild zu liefern. Die Angeklagten werden unerbittlich verurteilt, ohne ihre jämmerlichen Lebensbedingungen oder die Verantwortung der Erzeuger für die ungewollten Schwangerschaften zur Kenntnis zu nehmen. Frauen scheinen aus Sicht der Oberschicht aus eigener Bosheit vergewaltigt und geschwängert zu werden. In Anna Voigts Fall wird der angesehene Arzt Johannes Schreyer (1631-95) aus Zeitz als Gutachter hinzugezogen, der mit der Lungenschwimmprobe beweisen will, dass ihr Neugeborenes bei der Geburt nicht geatmet hat und die Mutter an seinem Tod vermutlich unschuldig ist. Schreyers Gutachten ist Anlass, eine Reihe historischer Figuren zusammenzuführen; neben Schreyer sind das u. a. als Jurist Christian Thomasius aus Leipzig (1655-1739), Sohn des legendären Jakob Thomasius (1622-84), die Theologen-Dynastie Carpzov und der Scharfrichter und Zuständige für Folter Christoph Heintze (1623-96). Der Prozess gegen Mutter und Tochter Voigt scheint zunächst in den Hintergrund zu treten, als der Konflikt eskaliert zwischen dem unbequemen Christian Thomasius, seinem prominenten Vater und den Honoratioren der Stadt einerseits, Christian und den Carpzovs andererseits. Den Einfluss des väterlichen Netzwerks in der Stadt hat Christian Thomasius offenbar falsch eingeschätzt …
Tore Renbergs Figuren wirken für ihre Epoche erstaunlich langlebig, Christian ist zu Beginn des Skandals Mitte 20, Schreyer 50 und Vater Voigt knapp 50 Jahre alt – zu einer Zeit, als die Lebenserwartung normaler Bürger zwischen 30 und 40 Jahren lag. Renberg zeigt seine männlichen Figuren u. a. als Privatpersonen, Ehegatten und Väter und mit allen Zweifeln, die ihre Tätigkeit in ihnen auslöst. Schreyer als emsiger Leser und Autor, der regelmäßig zu seinem Buchhändler reist, und Thomasius junior, der nach jeder geistigen Anstrengung zum Lustkauf in ein Geschäft für seidene Halstücher aufbricht, liefern ein aus heutiger Perspektive ungewöhnliches Männerbild. Frauen treten zunächst als bescheidene Gattin, wohlerzogene Tochter oder Dienstmagd auf, doch das wird sich bald ändern. Als Krimileserin habe ich mich anfangs gefragt, wer ein Interesse daran haben könnte, den Parvenü Voigt und den unbequemen Christian Thomasius durch den Prozess in den Bankrott zu treiben; denn das langwierige Verfahren hält beide Männer davon ab, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Auf den ersten circa 400 Seiten liest sich Renbergs akribisch recherchierter Historienschmöker spannend und regt an, sich mit dem 46-Seiten-Anhang zu befassen, der Kurzbiografien der historischen Figuren und Landkarten enthält, jedoch leider nur per QR-Code auf der Verlagsseite zugänglich ist. Auf den weiteren 300 Seiten mischt sich der Autor als Ichstimme stärker in seinen Text ein, weist auf die Grenzen der verfügbaren Quellen hin, die Kapitel werden kürzer und die Handlung fasert aus. Für eine Handlung des 17. Jahrhunderts fand ich die vorliegenden Informationen zu Renbergs historischen Figuren erstaunlich umfangreich.
Fazit
Ein spannender Historienschmöker, der Leipzig aus origineller Perspektive zeigt und die meist männlichen Figuren von einer ebenfalls ungewohnten Seite. Wegen des separaten Anhangs, den ich unpraktisch finde, 4 ½ Sterne.