Horizonterweiternd, spannend und vielschichtig
Bewertet mit 5 Sternen
"Dream Count", das neue Buch von Chimamanda Ngozi Adichie, ist ein faszinierendes Buch, das zu vielseitigen Diskussionen einlädt, in dem ich viel über Nigeria gelernt habe und das eine unglaubliche Fülle an Themen in spannende Geschichten vier afrikanischer Frauen verpackt, die miteinander verwoben sind.
Eingerahmt wird die Geschichte und auch das Frauengespann von Chiamaka: Tochter reicher Eltern aus Nigeria, sehr privilegiert aufgewachsen, lebt in großen Villen, hat eine Hausangestellte, reist um die Welt und träumt von der Selbstverwirklichung als erfolgreiche Reiseautorin... und von dem einen perfekten Mann, mit dem sie die perfekte Beziehung führen könnte, in der sie sich wirklich gesehen und erkannt fühlen würde. Von ihr und ihren Träumen leitet sich auch der Titel des Buches ab: Dream Count statt Body Count, jeder neue Mann, auf den sie sich einlässt, verkörpert einen Traum von ihr, dass sie nun den Richtigen gefunden haben könnte.
Nahbar aus der Ich-Perspektive geschrieben, lernen wir Chiamakas Leben und Sicht der Dinge in einem langen Kapitel am Anfang und einem kürzeren am Ende ausgiebig kennen und begleiten sie durch ihre Zeit zwischen ihren frühen 20ern bis etwa Anfang 40 durch verschiedene, nicht immer chronologisch erzählte, Episoden mit unterschiedlichen Männern, die die verschiedensten Hintergründe in Bezug auf geografische Herkunft und Race haben, und Chia mehr oder weniger gut behandeln. Deutlich wird dabei auch, wie stark die gesellschaftlichen sozialen Erwartungen, einen guten Mann zu finden, zu heiraten und Kinder zu kriegen, in Nigeria auch heutzutage noch sind, auch für eine privilegierte Frau, und wie Chia diese internalisiert hat und zu verwirklichen versucht.
Auf die eine oder andere Weise nah mit Chia verbunden sind auch die anderen drei Frauen, deren Leben ausführlich porträtiert wird. Da gibt es die Anwältin Zikora, zwei Jahre älter als Chia und in der Nähe dieser in Nigeria aufgewachsen, lebt sie nun auch in den USA, wo die beiden Frauen enge Freundinnen geworden sind. Leider erfährt man im Roman so gut wie nichts über Zikoras praktische Anwaltstätigkeit, auch in diesem Kapitel liegt der Schwerpunkt auf Zikoras Wunsch nach Familie. Dieser erfüllt sich, wenn auch anders als geplant und mit einer großen Enttäuschung verbunden... am Ende steht Zikora als Single-Mutter alleine da, nähert sich dafür aber ihrer eigenen Mutter wieder an. Ausführlich und authentisch wird auch Zikoras Erfahrung bei der Geburt ihres Sohnes geschildert. Dieses Kapitel ist interessanterweise nicht aus der Ich-Perspektive, sondern aus der dritten Person geschrieben und macht sehr nachdenklich über die Einschränkungen und inneren Zwänge, denen auch sehr gebildete und beruflich erfolgreiche Frauen noch unterliegen können.
Die dritte Frau, Kadiatou, stammt nicht wie die drei anderen aus einer Igbo-Familie aus Nigeria, sondern ist aus Guinea. Doch das ist nicht der einzige Unterschied: außerdem ist sie in bitterer Armut aufgewachsen, hat schon früh Vater und Schwester verloren, bald nach ihrer Hochzeit auch den Ehemann, wurde als Kind beschnitten, später Opfer von sexuellen Übergriffen und hat es schließlich geschafft, gemeinsam mit ihrer Tochter Asyl in den USA zu bekommen, wo sie fleißig als Chias Hausangestellte sowie in einem Hotel als Zimmermädchen arbeitet. Die offene, herzliche Chia sieht Kadia als Freundin an, während letztere sich der Ungleichheit der Positionen beider deutlich bewusster ist. Das stellt die interessante Frage nach der Möglichkeit und Gestaltung von Freundschaft bei so unterschiedlich privilegierten Ausgangspositionen. Kadiatou wird bei der Arbeit im Hotel Opfer eines sexuellen Übergriffs eines sehr mächtigen Mannes, und von Arbeitskollegen dazu gedrängt, ein Gerichtsverfahren gegen diesen anzustreben, was sie auch macht, und wobei sie von Chia und den anderen beiden Frauen unterstützt wird. Auch dieses Kapitel ist aus der 3.-Person-Perspektive geschrieben.
Die vierte Frau, Omelogor, ist Chias Cousine, und sie lebt überwiegend in Nigeria, wo sie im Bankenbereich tätig ist, dabei zwiespältige Geschäfte unterstützt, in moralische Konflikte gerät und versucht, diese zu bewältigen, indem sie von den Reichen Geld abzweigt und dieses armen Frauen für Mikrozuschüsse für ihre Geschäfte zukommen lässt. Omelogor ist, neben der benachteiligten Kadiatou, eine der interessantesten Personen dieses Romans: sie ist hochintelligent, unabhängig, gestaltet ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen, kann sich in einer rauen Männergeschäftswelt ausgezeichnet behaupten und hat dabei aber immer noch eigene ethische Vorstellungen, die sie nicht komplett über Bord wirft. Zwar wird auch sie immer wieder von ihrer Verwandtschaft unter Druck gesetzt, ein Kind zu bekommen, oder, wenn sie irgendwann zu alt dafür sei, zumindest eines zu adoptieren, doch gelingt es ihr letztlich sehr gut, wieder zu sich zurückzufinden und zu spüren, was sie wirklich von ihrem Leben will. Ihr Kapitel ist wiederum aus der Ich-Perspektive geschrieben.
Sehr interessant an dem Buch sind die verschiedenen Stimmen und wie wir die Leben und Freundschaften der Frauen aus unterschiedlichen Perspektiven kennen lernen. Dabei zeigt sich zum Beispiel, dass etwa Chia zum Romantisieren und Verklären neigt - nicht nur in Bezug auf ihre Männerbekanntschaften, sondern auch auf die Natur der Freundschaft des Viererfrauengespanns. Zikora und Omelogor wiederum können sich eigentlich gegenseitig gar nicht so gut leiden und werden nur durch Chia lose miteinander verbunden. Und in Bezug auf Kadiatou spielt eben der sehr unterschiedliche soziale Hintergrund und die Tatsache, dass diese Chias Hausangestellte ist, ebenfalls eine prägende Rolle in der Beziehung.
Das Buch regt also zum Nachdenken über Frauenfreundschaften, Partnerschaften, Kinder-Kriegen oder nicht, Emanzipation, Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung, Träume, Privilegien, Klassenunterschiede, Race, Rassismus und vieles mehr an, und behandelt damit überraschend universale Themen, die so nicht nur im nigerianischen Umfeld, sondern überall auf der Welt eine Rolle spielen. Damit zeigt es die Universalität der grundlegenden Menschheitserfahrung an, und wirkt damit auch empathieschaffend und verbindend. Gleichzeitig sind aber in die Geschichten auch viele Hintergrundinformationen über Nigeria eingebunden und ich habe bei der Lektüre wie nebenbei viel über die dort herrschende Gesellschaftsstruktur mit ihren vielfältigen Ethnien und Religionen gelernt.
Besonders interessant war für mich der "Blick von außen" auf so einige scheinbare Gewissheiten, die wir im globalen Norden und in westlich sozialisierten Ländern zu haben scheinen, etwa, wenn Omelogor für einige Zeit in die USA zieht, um dort ein Masterstudium zu machen und Pornographie zu untersuchen, und die sehr starren und einheitlichen Vorstellungen der liberalen, aber wenig lebenserfahrenen, jungen amerikanischen Studierenden kritisch hinterfragt. Da wird so einiger Scheinheiligkeit ein Spiegel vorgehalten, wie auch an so manchen anderen Stellen im Buch.
Sprachlich ist das Buch sehr unterhaltsam, dabei aber auf durchaus hohem sprachlichem Niveau, geschrieben und ich habe immer gerne und mit Spannung weitergelesen, mit den Frauen mitgefiebert und war neugierig, wie es weitergeht. Auf mehr als 500 Seiten habe ich mich nie gelangweilt.
Chimamanda Ngozi Adichie gehört für mich insgesamt zu den großen Stimmen der Literatur und ich schätze es besonders, wie sie mir einen für mich sehr unbekannten Kulturkreis mit ihren Romanen nahebringt. Große Leseempfehlung, und ich möchte demnächst alle weiteren Bücher von ihr lesen!