Rezension

Horrormärchen

Starling House -

Starling House
von Alix E. Harrow

Bewertet mit 5 Sternen

Beeindruckender, feinfühliger und überwältigender Horror-Roman, der mich restlos begeistert hat

Obwohl die Kurzbeschreibung des Buches ja bereits eine düstere Geschichte versprach, hatte ich aufgrund des Covers und Farbschnitts etwas anderes, mehr Richtung kitschige dunkle YA-Fantasy mit vielen derzeit so beliebten Tropes, erwartet. Glücklicherweise habe ich dem Buch trotzdem eine Chance gegeben, denn Alpträume und Ungeheuer klangen einfach zu verlockend.
Tatsächlich hat mich das Buch von der ersten Seite an restlos begeistert, vor allem weil es erst einmal so real in der Gegenwart begann, mit den Alltagsproblemen von Opal, die sich jeden Tag mit den Alltagsproblemen einer mittellosen Schwester auseinandersetzen muss, die ihrem Bruder ein besseres Leben ermöglichen will. Zudem ist Opal im Ort nicht gerade beliebt und zu einer zynischen Einzelgängerin geworden, die nichts und niemandem vertraut.
Daher war es faszinierend mitanzusehen, wie sie im Starling House auf einen ebenbürtigen, ebenso verkorksten Menschen trifft, und wie Opals harte Schale nach und nach Risse bekommt. Unter ihrer Gleichgültigkeit und Kaltschnäuzigkeit blitzen Mitgefühl und Leidenschaft auf, und so werden Opals Träume vom Starling House ihr schließlich zum Verhängnis - oder besser gesagt Schicksal.
Sehr behutsam baut die Autorin eine ganz eigene Welt, die einerseits völlig real, andererseits alptraumhaft und voller Schrecken ist. Ironischerweise heißt der Ort, in dem Opal lebt, Eden - doch dieses Paradies entpuppt sich wie Fallobst: an der Oberfläche hübsch glänzend, doch auf der Unterseite verrottet.
Und nachdem Opal, die jahrelang von Starling House, dem mysteriösen Haus im Wald, geträumt hat, nun den entscheidenden Schritt hinter das Tor des Anwesens wagt, soll sich ihr Leben dramatisch verändern. Als sie von der wahren dunklen Geschichte des Hauses und ihrer Bewohner erfährt, fügen sich die Puzzleteile, die aus ihren lückenhaften Kindheitserinnerungen und ihren andauernden Träumen vom Starling House, das sie doch gar nicht kennen kann, endlich zusammen.
Die Familiengeschichte von Opal, also ihre Beziehung zu ihrem Bruder Jasper, der gerade mitten im Teenager-Alter steckt, wirkt mit den Kabbeleien und Streitereien der beiden unglaublich echt und im 'hier und jetzt'. Dagegen verschiebt sich die Realität jedes Mal, wenn Opal die Schwelle zum Starling House übertritt, welches ein Eigenleben zu führen und so gar nichts mit der realen Welt gemein zu haben scheint, sondern wie ein Relikt aus einer fernen Vergangenheit, aus einem Traum oder Märchen, wirkt.
Ich war beeindruckt, wie die Geschichte nur ganz langsam aufgebaut wird, so dass anfangs vielleicht nicht viel im Sinne von Action passiert, aber trotzdem alles sehr intensiv und spannend ist - wir lernen Opal als Antiheldin richtig gut kennen, und auch wenn mir ihre zynische und abweisende Art nicht wirklich sympathisch war, konnte ich ihr ihr Verhalten nie übelnehmen und war von Anfang an auf ihrer Seite. Im Buch gibt es auch eine Romanze, doch diese wurde zu meiner Freude eher dezent und bar jeden Kitsches in Szene gesetzt.
Die gruseligen Elemente der Geschichte werden eher sparsam eingesetzt, verfehlen ihre unheimliche und schockierende Wirkung aber dennoch nicht, und auch der allgegenwärtige Nebel trägt zur alptraumhaften Atmosphäre bei. Das Finale schließlich ist gleichermaßen unerwartet wie konsequent und hat mich einmal mehr davon überzeugt, mit diesem Buch einen unerwarteten Glücksgriff getan zu haben. Interessanterweise gelang es mir nicht, das Buch "zu verschlingen" wie man so schön sagt - die detailreiche und klug verwobene Geschichte zwang mich, sie in Ruhe und mit gemessenem Tempo zu genießen.
Fazit: ein beeindruckender, feinfühliger und überwältigender Horror-Roman, der mich restlos begeistert hat.