Ich beiße in die Hand, die mich füttert
Bewertet mit 4 Sternen
Reza hasst Deutsche und deutsche Kinder gleichermaßen, denn er ist selber noch ein Kind, ein heranwachsender Jugendlicher, der glaubt, sich in seiner billigen Wohnsiedlung beweisen zu müssen. Er bewundert diejenigen ausländischen Jugendlichen, die einen auf dicke Hosen machen, die keine Autorität gelten lassen, alle Regeln brechen und sich ihre eigenen machen: so will er auch sein. Gewalt ist Macht. Deshalb bejaht er sie. Er begreift nicht, dass Gewalt die größte Hilflosigkeit überhaupt ist.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Der Autor ist wie in seinem ersten Roman, Hund, Wolf, Schakal, überaus sprachmächtig. Seine Bilder beeindrucken und erzeugen Emotionen, meistens stoßen sie ab, aber sie zeigen Wirkung beim Leser. Das ist großes literarisches Können. Trotz allem ist er zu sehr auf Aphorismen fixiert und weniger auf Zusammenhänge. Das ist ein Manko. Freilich sein einziges.
Der Botschaft jedoch, die sein Protagonist Reza übermittelt, zeige ich die kalte Schulter: Deutschland sei sch****, gemein, ein Volk voller Mörder und Neonazis und Rassisten, ein Staat, der Flüchtlinge mit dem Lebensnotwendigsten versorge, aber ansonsten im Regen stehen lässt, kurzum: ein Land, das an allem schuld ist, an inneren und äußeren Nöten, ein bescheuertes überhebliches Land, das Heimat sein will, niemals, für ihn nicht. Er wird niemals ankommen. Und anderseits können sich seine Menschen nicht wehren, sie sind Luschen oder Lesetreter und versinken im Drogenrausch. Oder sie bauen sich spießige Reihenhäuser und halten sich Gartenzwerge. Dafür hat er nur Verachtung übrig. Diese Haltung spiegelt schlecht verborgenen Sozialneid. Reza dealt selbst und erlebt wie die Jungs, mit denen er gespielt hat und deren Denke er versteht, nicht immer teilt, reihenweise abgleiten in die harte Kriminalität, im Gefängnis landen oder dumme Tode sterben.
Es ist erstaunlich, dass ein Autor, der als 10jähriger mit seinen Eltern aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet ist, einen solchen Roman schreibt, einen, der so voller Wut und Hass ist. Der Autor ist natürlich nicht identisch mit Reza, aber es fällt einem schwer, Reza und Behzad immer auseinander zu halten, da der Roman durchaus einen autofiktionalen Anteil hat.
Ja, es ist schwer, in einem fremden Land anzudocken. Aber den meisten gelingt es irgendwie. Die erste und die zweite Generation zahlt drauf. Aber das ist niemandes Schuld! Das ist die Konsequenz einer Flucht! Wenn überhaupt, ist das Herkunftsland verantwortlich, dafür nämlich, dass eine Flucht überhaupt erforderlich gewesen ist. Diese Realität wird in der Migrantenliteratur überwiegend verweigert.
Frust und Enttäuschung kann ich durchaus nachvollziehen, aber wer sagt, dass es im Herkunftsland besser war? Es gab doch einen Grund, herzukommen. Niemand hat gerufen. In diesem Roman jedenfalls, wird kein Wort hinsichtlich solcher Dinge wie Mitverantwortung, Mitgefühl für die Drogenopfer, Mitgefühl für die Opfer ausgeübter Gewalt, verloren. Verantwortlich sind alle, nur man selber nicht! Nun ist Reza natürlich nicht Behzad. Das darf man nie vergessen, wenn man diesen Roman liest. Und trotzdem: alle Möglichkeiten hat Deutschland gegeben. Nicht so viele, wie man erwartet hat, aber durchaus nicht „gar keine“. Wut und Hass bricht aus diesem Roman, beides kann ich nicht tolerieren, und nur bedingt nachvollziehen. Immerhin räumt der Autor in seinem Vorwort an seinen Sohn wenigstens die Möglichkeit einer Heimat ein, was darauf hindeutet, dass er über die Unversöhnlichkeit Rezas hinausgewachsen ist und mir hilft, mich rein auf das Literarische zu konzentrieren:
Fazit: ein Roman, der in Kafkas Sinne Nachhall hat. Dessen Botschaft ich jedoch energisch widerspreche! Deutschland ist nicht schuld an der Migrantenmisere. Es ist überaus schlechter Stil, in die Hand dessen zu beißen, der einen füttert.
Kategorie: Migrantenliteratur
Verlag: Hanser, Berlin, 2024
Kommentare
Klugscheisser kommentierte am 13. September 2024 um 15:31
Ich bin ziemlich d´ accord.
Es gefällt mit, daß Du einen klaren Standpunkt hast und nicht rumeierst.
Steve Kaminski kommentierte am 15. September 2024 um 16:55
"Ja, es ist schwer, in einem fremden Land anzudocken. Aber den meisten gelingt es irgendwie. Die erste und die zweite Generation zahlt drauf. Aber das ist niemandes Schuld!"
Aber es wäre wichtig, die Menschen erst einmal willkommen zu heißen; und traumatisierten Menschen Hilfsangebote zu machen. Wenn traumatisierte Menschen nach Deutschland kommen und dann lange in der Ungewissheit leben müssen, ob sie bleiben dürfen, ist dies eine äußerst schwierige Situation. (Vgl. Glaesmer u.a., Handbuch der Psychotraumatologie, Stuttgart: Klett-Cotta 2024.)
wandagreen kommentierte am 15. September 2024 um 18:14
Hallo Stevie,
darum gehts aber nicht in diesem Roman. Ausserdem ist es wirklich die Frage, ob ein Staat das leisten muss.