Rezension

Ich bin hier

Noch so eine Tatsache über die Welt
von Brooke Davis

Bewertet mit 5 Sternen

~~Klappentext
Millie Bird ist sieben, als sie ihr erstes totes Ding findet, Rambo, ihren Hund. Von da an führt sie Buch über alles, was auf der Welt verloren geht. Darauf, dass sie auch  ihren Dad in ihr Buch der toten Dinge eintragen muss, war sie überhaupt nicht vorbereitet, und auch nicht darauf, dass ihre Mom im Kaufhaus nur kurz weggeht und nicht wiederkommt.
Karl ist siebenundachtzig, als sein Sohn ihn ins Altersheim bringt. Hier wird er nicht bleiben, denkt Karl, und kurz darauf haut er ab. Erst einmal ins Kaufhaus, bis sich etwas Besseres findet. Dort trifft er Millie.
Agatha Pantha ist zweiundachtzig und geht nicht mehr aus dem Haus, seit ihr Mann gestorben ist. Halb versteckt hinter Gardine und Efeu sitz sie am Küchenfenster und beschimpft Passanten. Bis das kleine Mädchen von gegenüber zurückkommt, allein …

 

Dann führt sie ihre Gummistiefel spazieren. Hoch und runter auf der Rolltreppe, zuerst gehend, dann springend, hüpfend und winkend wie die Queen. Sie setzt sich oben an die Treppe und schaut zu, wie die Stufen sich selbst verschlucken. Was passiert, wenn die Stufen sich nicht rechtzeitig flach machen? Fragt sie ihre Gummistiefel. Sie stellt sich vor, wie die Stufen sich am Ende der Treppe stapeln und in die Gänge purzeln. Sie versucht mit jedem, der an ihr vorbeigeht, Blickkontakt herzustellen, und immer wenn es klappt, hüpft die Luft vor ihr auf und ab, wie bei den alten Filmen, die sich ihre Mum anschaut. Sie spielt Verstecken mit einem Jungen, der gar nicht merkt, dass er mitspielt. Als Millie ihm mitteilt, das sie ihn gefunden hat, fragt er sie als Antwort, warum ihr Haar so aussieht, und beschreibt mit dem Zeigefinger eine Spirale. Das sind Balletttänzerinnen, sagt sie. Abends springen sie von meinem Kopf und tanzen mir etwas vor.“ (Seite 14/ 15)

Als Millie Bird zum ersten Mal in ihrem Leben dem Tod begegnet ist sie sieben Jahre alt. Fortan führt sie eine Liste der toten Dinge. Eines Tages steht auch ihr Vater auf dieser Liste, aber Millie mag nicht daran denken, und blendet dies aus. Eines Tages geht sie mit ihrer Mutter in ein Kaufhaus. Millies Mum setzt sie in der Abteilung für Damenoberbekleidung ab und befiehlt Millie hier zu warten, bis sie wieder zurück kommt. Doch Millies Mum kommt nicht zurück. So verbringt Millie drei Tage und drei Nächte im Kaufhaus, bis sie entdeckt wird. Doch Millies einzige Sorge ist es, dass ihre Mutter sie nicht finden könnte. Sie flüchtet nach Hause, doch auch dort ist ihre Mutter nicht. Millie findet einen Hinweis darauf, wo ihre Mutter sein könnte und beschließt sie zu finden.

Karl besaß weder einen Computer noch eine Schreibmaschine oder wenigstens eine Tastatur. Er tippte blind auf Mülltonnendeckel, in die Luft, auf die Köpfe kleiner Kinder, auf seine Beine. Fragen tippte er, bevor er sie stellte, nur um sicherzugehen, dass er sie tatsächlich stellen wollte. In der Verschwiegenheit seines eigenen Zuhauses, ehe er zu seinem Sohn gezogen war, hatte Karl Tastaturen auf Couchtische, Wände und Duschvorhänge gemalt. Er liebte die Bewegungen der Hände beim Tippen, den Tanz der Finger, die wie beim Square-Dance umeinander herumhüpften. Er hatte beobachtet, wie die Finger seiner Mutter, und später dann Evies, über die Tasten sprangen wie Wassertropfen auf heißem Asphalt, du er fand die gekrümmten Finger einer Frau beim Tippen ebenso elegant und erregend wie ihr Fußgewölbe oder ihren Nacken.“ (Seite 80)

Karl der Tastentipper trifft das erste Mal auf Millie im Kaufhaus. Er sitzt in der Cafeteria und trinkt seinen Kaffee, als Millie ihn anspricht. Millie ist fasziniert von dem immer zu tippenden Karl. Was keiner ahnt, Karl lebt zurzeit im Kaufhaus. Nach dem Tod seiner Frau hat Karl bei seinem Sohn gelebt. Doch dessen Ehefrau wollte Karl nicht in ihrem Haus haben. Also beschließt Karls Sohn, seinen Vater in einem Altersheim unterzubringen. Doch dort ist Karl so unglücklich, dass er nach ein paar Tagen abhaut. Er findet Zuflucht im Kaufhaus, wo er Millie kennen lernt.

Sie hasst sich selbst, ihren Körper, und jetzt weint sie, Tränen rinnen über ihr Gesicht, und es ist erbärmlich, und sie ist eine alte alte alte traurige traurige traurige Frau, und sie hasst sich so sehr; mehr als alles andere ist es dieses Gefühl, das sie am deutlichsten spürt.“ (Seite 234)

Agatha Pantha hat seit dem Tod ihres Mannes vor sieben Jahren das Haus nicht mehr verlassen. Sie hat keinerlei Kontakt zur Außenwelt. Lebensmittel bekommt sie einmal in der Woche geliefert. Dafür legt sie das Geld unter die Fußmatte. Ihren Alltag lebt sie nach der Uhrzeit. Jeder Tag hat den gleichen Ablauf zur gleichen Zeit. Sie sitzt unter anderem am Fenster und beschimpft die Passanten, die daran vorüber gehen. Eines Tages bemerkt sie, wie Millie, die gegenüber wohnt, ohne ihre Mum nach Hause kommt. Als Millie dann auch noch bei an der Tür klopft, gerät Agathas Leben aus den Fugen. Zuerst will sie nicht so recht etwas mit Millie und ihren Problemen zu tun haben, aber schließlich erklärt sie sich bereit Millie bei der Suche nach der Mutter zu unterstützen.

Er war leer geworden, aber ohne die Erwartung, die etwas Leeres, zum Beispiel ein Blatt Papier oder eine Leinwand hervorruft; ohne das Staunen, die Hoffnung und die Angst, die Leere manchmal erzeugen kann. Er war einfach nur nichts. In der Welt der Satzzeichen hätte er ein Bindestrich sein können – frei schwebend, dazwischen, nicht unbedingt nötig.“ (Seite 95/ 96)

Wahnsinn, was für ein wunderschönes Buch!!! Diese Geschichte um Millie hat mich einfach nicht mehr losgelassen. Die einzelnen Charaktere sind zum Teil schon sehr schrullig. Aber genau das macht sie so liebenswert.

Da ist Millie, die mit ihren Gummistiefeln redet, und überall Schilder und Notizen für ihre Mutter mit der Aufschrift „Ich bin hier“ hinterlässt.

Da ist Karl, der immerzu tippen muss. Er liebt das Tippen und es beruhigt ihn. Für ihn ist das Tippen eine Konstante in seinem Leben, vor allem nach Evies Tod.
Dann ist da noch Agatha, die wohl schrägste Figur im Buch. Sie lebt nach der Uhr und wehe einer verstellt diese oder bringt sie aus ihren Rhythmus. Täglich vermisst sie ihren Körper, schreibt alles auf. Sie beschimpft Leute auf übelste ohne, dass diese ihr etwas getan haben.

 „Wie wird man alt, ohne zuzulassen, dass es nur noch Traurigkeit gibt?“ (Seite 64)

In dieser eigentlich schönen Geschichte um Millie Bird geht es um ernste Themen. Dem Verlassen werde, dem Älter werden und dem Tod.

Es ist traurig zu lesen, wie Millie ihren Vater verliert, und dann die Mutter Millie zurück lässt, weil diese den Tod ihres Mannes nicht verkraften kann und vollkommen überfordert ist.

Es ist traurig zu lesen, wie Karl in ein Altenheim abgeschoben wird, nur weil er alt und unbequem ist.

Es ist traurig zu lesen, wie sehr Agatha unter dem Verlust ihres Mannes leidet und nicht mehr am Leben teilnehmen möchte und einfach nicht mehr das Haus verlässt.

Aber trotz all dieser traurigen Dinge gibt es auch die schönen Dinge in dem Buch. Millie findet Karl. Karl findet Millie. Millie findet Agatha. Agatha findet Millie. Karl findet Agatha und Agatha findet Karl. Und nicht nur das Karl und Agatha finden noch einmal die Liebe und den Mut ein neues Leben zu beginnen. Und Millie? Ob Millie ihre Mutter findet, müsst ihr schon selber lesen ….

Unter einigen Schwierigkeiten setzt sie sich auf den Boden und streckt die Beine vor sich aus. Karl macht unter ungefähr genauso großen Schwierigkeiten das Gleiche. Sie beugen sich einander entgegen, ihre Gesichter schweben aufeinander zu, bis sie ganz nah sind. Beide entdecken noch mehr Falten im Gesicht des anderen. Agatha bemerkt mehr Haare in seinen Ohren als angenommen. Karl bemerkt ein Haar an Agathas Kinn. Sie schließen die Augen und küssen sich.“ (Seite 264)

Unbedingt lesen♥♥♥