Rezension

Ich hätte Hättie das 21. Jahrhundert gegönnt!

Zwölf Leben - Ayana Mathis

Zwölf Leben
von Ayana Mathis

Bewertet mit 5 Sternen

Armut und gesellschaftliche Zwänge binden Hattie die Hände, nicht das Hirn, denn Hattie ist jederzeit in der Lage, ihre Situation glasklar zu analysieren, was sie mehr als einmal in tiefe Verzweiflung führt. Hattie ist eine starke Person, mehr als das, sie ist eine Persönlichkeit, was man von August, ihrem Ehemann nicht sagen kann, der zwar gutaussehend und gutwillig ist, aber das ist es auch schon. Als Hattie einen Ausbruchsversuch wagt und er eine Weile mit den Kindern allein ist, kriegt er es nicht einmal auf die Reihe, einzukaufen und ihnen Abendbrot zu machen: hungrig und  ungetröstet gehen sie ins Bett.

Mit 16 hat Hattie noch nicht übersehen können, was sie heute sieht, dass sie sich nie mit August hätte einlassen dürfen und dass sie damit die Linien für ihr ganzes Leben abgesteckt hat, ohne willentlich eine Entscheidung dafür zu treffen. Armut ist ihr bitterer Lohn. Denn August ertränkt seine Verzweiflung im Alkohol und versucht Erleichterung zu finden bei den leichten Damen. Dass Hattie ihn nicht schon längst erschlagen hat, sondern weiterhin mit ihm ins Bett geht, ist ihr selber unerklärlich. Doch womit sonst als mit zügellosem Sex soll sie ihr Mitleiden mit ihren Kindern, denen sie keine Zukunft geben kann, betäuben?

Hattie ist Frau und Mutter. Und in beidem wird sie zutiefst gedemütigt und beschädigt, obwohl sie beides zu hundert Prozent bleibt, so dass sie wenigstens in der Lage ist, mehrere gesellschaftliche Schranken zu durchbrechen: sie nimmt Sozialhilfe in Anspruch, weil es unerträglich ist, ihre Kinder zugunsten ihres Stolzes hungern zu lassen, was jedoch als familiäre und gesellschaftliche Schande gilt, sie nimmt sich einen Liebhaber und hat ein Kind mit ihm, sie entkommt den Zwängen einer Art von Religion, die sich in Äusserlichkeiten erschöpft, diskriminierende Züge aber duldet und sogar fördert.

Die Geschichte Hatties und ihrer Familie reicht von 1925 bis 1980 und beinhaltet in zwölf Einzelportraits viele Themen: Apartheit und Rassismus, Frömmelei und religiöser Fanatismus, Homosexualität und Ehe, Betrug, Verzweiflung, Drogen, Kindesmissbrauch, Wahnsinn, Armut, Tod. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Es ist kein leicht zu lesendes Buch. Ist es ein Buch, das Hoffnung macht? Wird die Schwere des Lebens leichter, je weiter es sich der Neuzeit nähert? Diese Frage muss der Leser selbst beantworten.

Eine thematisch schwere Lektüre, sehr gut umgesetzt von der vielversprechenden afroamerikanischen Schriftstellerin Ayana Mathis, die im Arbeiterviertel von Philadelphia aufwuchs und wissen sollte, wovon sie spricht. „Meins“ war's allerdings nicht. Vielleicht werde ich das Buch später noch einmal mit mehr Genuss lesen.

Fazit: Als Erstling überzeugend!