Rezension

»Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht.«

Kukolka - Lana Lux

Kukolka
von Lana Lux

Bewertet mit 5 Sternen

Dnjepropetrowsk/Ostukraine, 1993: Die fünfjährige Samira lebt in einem Kinderheim, sie weiß was man dort von ihr erwartet und hält sich an die strengen Regeln. Warum auch nicht? Sie kennt es ja nicht anders und die Strafen für Missachtung sind hart. Weil sie schwarze Haare und dunklere Haut hat, wird sie oft als Zigeunerin beschimpft und hat keine Freunde. Erst als Marina neu ins Heim kommt, freundet sie sich mit ihr an. Eine Freundschaft, die allerdings nicht lange währt, denn Marina wird allsbald adoptiert und kann dem trostlosen Leben nach Deutschland entfliehen.

Ein Traum, an dem nun auch Samira festhält. Sie will ihrer Freundin folgen und stiehlt sich mitten in der Nacht davon, in eine Welt, die sie nicht kennt und die sie mit Kälte empfängt, irrt durch die Straßen und gelangt schließlich zum Bahnhof. Endstation, denn sie hat kein Geld. Doch ein großer, bärtiger Mann bietet ihr an, bei ihm zu wohnen und für ein Ticket nach Deutschland zu arbeiten. Rocky, so nennt sich der Fremde, und die Scharr Kinder und Jugendlichen, die für ihn arbeiten, werden Samiras neue Familie. Weil sie so klein und zierlich ist, so wunderschöne blaugrüne Augen hat, kann ihr kaum jemand widerstehen und ihre neue Arbeit, das Betteln, fällt ihr leicht. Alle nennen sie Kukolka, das russische Wort für Püppchen. Samira erfährt zum ersten Mal in ihrem Leben Bestätigung und empfindet Dankbarkeit gegenüber Rocky, der ihr nicht nur ein Zuhause, sondern auch Schokolade und hübsche Anziehsachen gibt, wenn sie ihm Entspannung verschafft.

Doch ihr Traum lockt sie und eines Tages wird ihr strahlender Traumprinz vorbeikommen, ihr Blumen schenken und anbieten, sie nach Deutschland zu bringen. Und dann wird Samira diese Chance ergreifen.

Leseeindruck

Kennen Sie diese Bücher, die einen von der ersten bis zur letzten Seite derart packen, dass man am liebsten nichts anderes tun möchte, als zu lesen – nicht weil es einem Vergnügen bereitet, sondern weil das Geschriebene fasziniert und bestürzt? Diese Geschichten, die einen gefangen nehmen, verschlingen und dann nicht mehr loslassen, auch wenn der letzte Satz gelesen ist? Romane, die schmerzen und abstoßen aber auch fesseln und berühren, die so lebendig und authentisch erzählt werden, dass man am liebsten hineinkriechen möchte, um den Protagonisten an die Hand zu nehmen und ihm einen Weg nach Draußen zu zeigen? Nein? Dann lesen Sie diesen Roman, denn die 1986 geborene Autorin Lana Lux hat mit diesem Debüt genauso ein Werk geschrieben.

»Meine Gedanken drehten sich im Kreis, so lange, bis der Kreis geschlossen wurde, der eine Gedanke den anderen und der andere den nächsten fraß und schließlich sich selbst zersetzte.«

»Kukolka« ist ein schmerzlich bewegender Roman, der dem Leser viel abverlangt, ihm aber auch viel gibt, wenn man sich dafür öffnen kann … wenn man den Ekel, die Gewalt und die Unmenschlichkeit aushalten kann. Aber das muss man, denn es ist die Realitität, vor der man sich nicht verschließen darf. Lux findet klare Worte, beschönigt nichts und erzählt beinahe nüchtern. Es ist Samiras Stimme, mit der sie spricht, und unsere Protagonistin hat schon früh die Schattenseiten des Lebens kennengelernt, wurde mit Tod, Mord und Missbrauch konfrontiert.

»Jeder hatte mir irgendeine andere Lüge erzählt, um mich zu manipulieren, zu formen, auszunutzen. (…) Traurigkeit und Wut legten sich zu mir ins Bett. Die Traurigkeit machte sich so breit, dass die Wut vom Bett fiel.«

Samira lebt in ihren jungen Jahren ein Leben, das sich viele nicht vorstellen können, ja das sie niemals ertragen könnten, und sie bewahrt sich trotzdem ihre Hoffnung, denn nichts anderes hat sie. Dieser bedingungslose »Glaube« daran, dass alles gut werden muss – und wenn nicht gut, dann doch wenigstens besser – hat mich tief beeindruckt und stark berührt. Ich habe mit Samira gelitten, mit ihr gehofft, bin diesen steinigen Weg gemeinsam mit ihr gegangen, gestolpert und wieder aufgestanden, den Blick nach vorn gerichtet, auch wenn die Sicht durch Tränen getrübt war.

»Heute beginnt mein drittes Leben. Das zweite hat am 1. September 1996 begonnen. Statt im Heim eingeschult zu werden, habe ich die Schule der Straße besucht. Heute verlasse ich sie. Lebendig. Heute beginnt mein drittes Leben. Ich bin stark. Ich kann alles.«

Fazit

Kinderprostitution, Menschenhandel, Missbrauch – das alles wird in »Kukolka« durch die starke Stimme Samiras auf ganz besondere Weise thematisiert. Klar und schnörkellos, immer auf den Punkt – wie harte, schnelle Schläge in die Magengrube. Dieser Roman tut weh und hinterlässt Narben. Aber es sind diese Narben, die uns nicht vergessen lassen.