Rezension

Im falschen Jahrhundert geboren

Fräulein Nettes kurzer Sommer - Karen Duve

Fräulein Nettes kurzer Sommer
von Karen Duve

Bewertet mit 4.5 Sternen

Fräulein Nette, das ist Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff, als Annette von Droste-Hülshoff bekannt. Sie ist klein, mager, kränklich, schwerst kurzsichtig und glupschäugig - aber sie ist auch eine begabte Musikerin, Komponistin und vor allem Schriftstellerin. Leider ist sie in der falschen Zeit geboren, denn im 19. Jahrhundert, zur Zeit des Biedermeiers, haben Frauen zurückhaltend zu sein, bescheiden und unterwürfig; nur dafür gut, möglichst viele Söhne in die Welt zu setzen. Annette aber ist ein Freigeist, sie möchte Anregungen, kritische Rückmeldungen zu ihren Werken und gleichberechtigte Gespräche mit interessanten Männern. Da ist vor allem ihr Onkel August von Haxthausen, nur fünf Jahre älter als sie, der selbst Gedichte verfasst und einen studentischen literarischen Zirkel gründet. Durch ihn lernt sie einige höchst interessante Männer kennen: Da sind die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, Arnswaldt, Benecke und vor allem Heinrich Straube, ein bürgerlicher Mann ohne finanzielle Mittel, der von August gefördert wird und allgemein als genial angesehen wird. Nette und Straube fühlen sich zueinander hingezogen, obwohl eine solche Verbindung doch völlig unmöglich ist. Auch einige der anderen Männer finden Nette interessant und anregend, aber August ist empört über ihr unweibliches Auftreten. Sie soll einen Denkzettel erhalten, der ihr endgültig zeigt, wo ihr Platz ist...

Was im Sommer 1820 tatsächlich vorgefallen ist, ist anscheinend historisch nicht eindeutig belegt. Die Folgen sind aber sicher: Die Freundschaft zwischen Annette und Straube wurde zerstört, Annette zieht sich zurück und hat große Selbstzweifel. Karen Duve hat sorgfältig recherchiert und zeichnet ein historisch getreues Bild, das durchaus so hätte geschehen können. Sie nimmt den Leser mit in eine Zeit, die ja gar nicht so weit entfernt ist und dennoch fremd wirkt. Annette wächst mir als Leserin ans Herz: Hübsche Gedichtchen als Weihnachtsgeschenk für die Großmutter sind ja recht erbaulich, aber damit soll es dann bitte auch sein Bewenden haben. Annette will mehr, widerspricht allen Konventionen und schießt auch manchmal mit ihrem Verhalten über das Ziel hinaus. Duve gelingt also sowohl ein Zeitportrait als auch eine überzeugende Charakterisierung. Ein Buch, das ich gern gelesen habe und weiterempfehle und das mich neugierig darauf macht, noch einmal die Originalwerke von Fräulein Nette zur Hand zur nehmen.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 18. Mai 2019 um 19:48

glupschäugig? Na, dann war sie wohl nicht hübsch. Ein echtes Vergehen, damals. (Danke Firi).

FIRIEL kommentierte am 20. Mai 2019 um 20:23

Nö, hübsch war sie nicht. Aber es gibt ja noch eine Menge anderer Qualitäten, die eine Frau haben kann, oder?

Arbutus kommentierte am 15. September 2019 um 00:31

Also, wenn ich mir Bilder von ihr angucke, also, ich würde so jemand niemals als "glubschäugig" bezeichnen. Auch sie war auf ihre Weise eine schöne Frau.

(So. jetzt habe ich den dicken Schinken auch gelesen. Ich hatte anfangs so meine Schwierigkeiten, mit der bitterbösen Schreibweise klarzukommen, aber bin jetzt doch schwer begeistert. )