Rezension

Im Gefängnis der Loyalität

Loyalitäten - Delphine de Vigan

Loyalitäten
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 5 Sternen

Von Delphine de Vigan las ich bereits „Das Lächeln meiner Mutter“ und war auch zutiefst beeindruckt von „Nach einer wahren Geschichte“, das wundervoll mit der Schauspielerin Martina Gedeck als Hörbuch vertont wurde. Beides waren besondere Geschichten, die mir nicht zuletzt durch ihre eindringliche Erzählweise positiv in Erinnerung blieben. So war ich auch neugierig, als ich von Delphine de Vigans neustem Buch „Loyalitäten“ erfuhr, das von einem zwölfjährigen Jungen handelt, der mit seinem Leben überfordert ist und dem Alkohol verfällt. Ich war ein wenig skeptisch, weil diese Geschichte auf nur 176 Seiten erzählt wird, kann aber an dieser Stelle bereits verraten, dass diese Bedenken unbegründet waren.

Gleich mit den ersten Sätzen ist man inmitten dieser Geschichte und erfährt, wie die Lehrerin Hélène Veränderungen an ihrem zwölfjährigen Schüler Théo wahrnimmt. Und auch die Mutter seines besten Freundes, die wir ebenfalls aus der Ich-Perspektive erleben, beobachtet ihn mit Misstrauen. Théo und Mathis hingegen begegnen wir durch einen allwissenden Erzähler, der sehr tiefe Einblicke in die Charaktere und die Lebensumstände gewährt und einen gleichzeitig in die Rolle des erwachsenen Beobachters versetzt. In kurzen Kapiteln, die einen nicht mehr los lassen, eröffnet sich nach und nach das ganze Ausmaß der Tragödie:

„Eines Tages möchte er gern das Bewusstsein verlieren, völlig. Sich für ein paar Stunden oder für immer in das dicke Gewebe der Trunkenheit fallen, sich davon bedecken, begraben lassen, er weiß, das so etwas vorkommt.“ (S. 14)

Beim Lesen fühlt man mit, kann nachvollziehen, verurteilt einerseits, verurteilt andererseits aber auch nicht. Die Beziehungen und Verstrickungen sind komplex und keinesfalls einfach, aber auch nicht ungewöhnlich und fast schon gefährlich nah an der möglichen Realität, von der man jedoch ahnt, dass sie das ein oder andere Kind bereits eingeholt hat. Das macht traurig und wütend. Dabei möchte man eigentlich eher Aufschreien und den Protagonisten bei der Hand nehmen, um ihn aus seinem Loyalitätskäfig herauszureißen und in die Freiheit zu führen.

„Ich weiß, dass Kinder ihre Eltern schützen und dass dieser Pakt des Stillschweigens sie manchmal sogar das Leben kostet. Heute weiß ich etwas, das andere nicht wissen. Und ich darf die Augen vor nichts verschließen.“ (S. 134)

Das Buch baut eine Spannung auf, die sich nicht mit dem Ende entlädt, sondern mich nach der letzten Seite zurückblättern ließ, weil ich mich über den Ausgang der Geschichte vergewissern musste. Und nach dem Zuklappen des Buches war diese Geschichte noch nicht zuende, sondern fing eigentlich erst an – aber dieses Mal nur in meinem Kopf, wo sie noch lange nachwirkte. Ein bewegendes Buch, das ich sehr empfehlen kann.