Rezension

„Im Moment ihres Untergangs ähneln alle Zivilisationen kopflosen Hühnern.“

Es war einmal eine Stadt - Thomas Reverdy

Es war einmal eine Stadt
von Thomas Reverdy

Bewertet mit 5 Sternen

Zuerst kamen die Gräser, dann die Sträucher und schließlich sprengten Baumwurzeln Straßen und Hausfassaden. Die Natur holte sich weite Teile der Stadt Detroit zurück, seit durch die Wirtschaftskrise die Arbeitsplätze verloren gingen, die öffentliche Ordnung nur an einem dünnen Faden hängt und immer mehr Menschen die Stadt verlassen. Von einer ehemals blühenden Industriestadt bleibt eine gewaltige Industriebrache zurück, auf einer Fläche so groß wie San Francisco, Manhattan und Boston zusammen. Ganze Straßenzüge werden verlassen, ausgeplündert und verfallen in flottem Tempo. Ausgesetzte Kampfhunde streunen herum. Der Stadt steht ein harter Winter bevor, sie befindet sich in jeder Hinsicht am Vorabend einer Katastrophe.

Am Rande dieser riesigen Industriebrache soll der französische Ingenieur Eugène für einen Automobilkonzern die Plattformproduktion eines neuen Modells „Integral“ einführen. Da Eugène bereits als Werkleiter in China gescheitert ist, könnte man auf die ketzerische Idee kommen, dass es auch mit seiner Firma inzwischen bergab geht und er in Detroit einfach vergessen wurde. Seine Abteilung und sein Arbeitsplatz wären bei seiner Rückkehr nach Frankreich vermutlich sowieso nicht mehr da gewesen.

Als bei Wintereinbruch die Leiche eines Kindes gefunden wird, kommt Lieutenant Brown an den Fundort, ein unauffälliger Polizist kurz vor der Pensionierung. Während die Stadt im Chaos versinkt, sind es Leute wie Brown, die das soziale Leben noch notgedrungen zusammenhalten. In der Stadt verschwinden auffällig viele Kinder, auch Kinder, die noch zu jung sind, um aus eigenem Antrieb von zuhause auszureißen. Die Polizei ist zu schlecht ausgerüstet, um in der Sache zu ermitteln; oft haben die betroffenen Familien auch schlicht kein Interesse, durch eine Anzeige die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen. Browns Instinkte als Cop funktionieren jedoch noch perfekt und er ist überzeugt davon, dass wirtschaftlicher Niedergang, Korruption und die verschwundenen Kinder zusammenhängen müssen. Irgendwo in der Stadt muss es einen Rattenfänger geben …

Thomas B. Reverdys postapokalyptischer Roman spielt in diesem Jahrtausend. Ein Kunstgriff (Charlies Großmutter Georgia erzählt die Familiengeschichte aus der Zeit kurz nach 1967) verknüpft Stadtgeschichte und Fiktion. Der Autor tupft sein Szenario mit Sinn für Ironie kurz und knapp auf; der größte Teil des Romans findet im Kopf des Lesers statt. Die Abwesenheit von Frauen in der Handlung erinnert daran, dass wirtschaftlicher und sozialer Niedergang häufig daran zu erkennen ist, dass junge, leistungsbereite Frauen eine Gegend verlassen. Eugène, Browne und der 12-jährige Charlie spielen anfangs die zentralen Rollen – alle drei Figuren sind Reverdy absolut gelungen. Verblüffend authentisch und dabei voller Ironie trifft Reverdy z. B. Persönlichkeit und berufliche Situation des Anzugträgers Eugène. Wie sich das Verhältnis zwischen Konzernen und ihren jungen Managern doch in diversen Ländern gleicht! Nicht gefallen hat mir das sprachlich umständliche Lavieren um eine Rattenfänger-Figur, das so gar nicht zum prägnanten Stil des Autors passt. Im Deutschen und im Französischen gibt es dafür einen konkreten, populären Begriff.

Mit seinem kurzen und prägnanten Roman zum wirtschaftlichen Niedergang einer ehemals blühenden Industrieregion hat Thomas B. Reverdy mich überrascht und begeistert. Wenn Sie die Folgen wirtschaftlicher Verelendung interessieren, prägnant und ironisch auf den Punkt gebracht, liegen Sie mit diesem Roman richtig.