Rezension

Immer in Bewegung bleiben

Der Reisende - Ulrich Alexander Boschwitz

Der Reisende
von Ulrich Alexander Boschwitz

Bewertet mit 3.5 Sternen

Es ist noch nicht lange her, da habe ich „Menschen neben dem Leben“ von Ulrich Alexander Boschwitz gelesen. Ein Roman, den er 1937 im schwedischen Exil bei Bonnier unter einem Pseudonym veröffentlichen konnte und dessen Erfolg es ihm ermöglichte in Paris einige Jahre an der Sorbonne zu studieren. „Der Reisende“ erschien 1939 in England, wohin Boschwitz seiner Mutter folgte, und 1940 auch in den USA sowie in Frankreich. Auf den deutschen Buchmarkt haben es beide Romane nun erst nach 80 Jahren geschafft und insbesondere der Reisende ist ein wichtiges literarisches Zeugnis über eines der finstersten Kapitel der deutschen Geschichte. Boschwitz selbst ist nicht älter als 27 Jahre geworden. In England internierte man ihn nach Kriegsausbruch und verschiffte ihn mit vielen anderen Gefangenen nach Australien. Von dort sollte er 1942 wieder zurück nach Großbritannien, um sich der britischen Armee anzuschließen und gegen die Deutschen zu kämpfen. Das Schiff wird allerdings bombardiert und den britischen Hafen nie erreichen.

„Der Reisende“ entstand 1938 unter den Eindrücken der Novemberpogrome in Deutschland und Österreich, die Boschwitz aus der Ferne erlebte und die ihn in eine ähnliche Unruhe gestürzt haben soll, wie es auch der Hauptfigur Otto Silbermann im Roman erging. Nur knapp entgeht der Kaufmann Silbermann seiner Verhaftung durch die Nationalsozialisten. Bisher konnte er sich erfolgreich einreden, dass man es nicht auf alle Juden abgesehen hatte und er weiterhin ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft darstellte. Immerhin hatte er im Ersten Weltkrieg für sein Vaterland gekämpft und sich danach ein kleines Vermögen erwirtschaftet. Von einer Minute auf die andere ist dieses Trugbild verloren und er fährt rast- und ratlos mit der Reichsbahn durch das deutsche Reich, versucht über die belgische Grenze zu kommen zum Sohn, der in Paris seit Wochen Einreisegenehmigungen für die Eltern erwirken will und keinen Erfolg hat. Immer in Bewegung bleiben, so denken viele der jüdischen Bürger. Sie treffen sich in den Zügen, versuchen arisch auszusehen und sich nicht verdächtig zu benehmen. Sie sind nicht vorbereitet auf diese Verfolgung, die Verhaftung, die Androhung der Konzentrationslager. Für den Leser ist die Odyssee des Otto Silbermann ähnlich schwer auszuhalten. Das Wissen um Hitlers „Endlösung in der Judenfrage“ legt sich wie Blei auf Silbermanns Bahnfahrten. Er ist das Reisen zwischendurch so überdrüssig, dass er sich wünscht, erwischt zu werden, ja dies schließlich sogar forciert. Als Leser betet man die gesamte Lesezeit, dass es ihn eben nicht erwischt, weil das echte Grauen erst mit der Verhaftung wirklich beginnt. 1938 ahnt Ulrich Boschwitz noch nichts von Hitlers „Endlösung“, er lässt seine Figur schließlich in der Irrenanstalt stranden.

Mit der Figur des Otto Silbermann bringt Boschwitz die Ohnmacht der jüdischen Bevölkerung auf den Punkt. Die Politik und die wachsende antisemitische Haltung der Gesellschaft seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten isoliert die Juden, von denen sich viele in erster Linie als Deutsche verstehen. Silbermann zum Beispiel bezieht den nationalsozialistischen Terror gegen die Juden nicht auf sich. Damit sind die anderen gemeint. Nicht, dass er das richtig findet. Aber er empfindet sich als wertvolles Mitglied der Gesellschaft, ihm wird schon keiner etwas wollen. Dieser Denkansatz findet sich bei vielen, denen er unterwegs begegnet und die in der gleichen Lage sind wie er. Und man versteht es irgendwie. Man stellt sich den Schwierigkeiten, versucht mit der veränderten Situation umzugehen, hält aus, hofft, dass schon alle bald wieder zur Vernunft kommen, kann sich nicht noch schlimmeres vorstellen, als das, was einem bereits widerfahren ist. Wem würde es nicht so gehen? Und nicht jeder konnte es sich leisten das Land zu verlassen und irgendwo ein neues Leben aufzubauen. Nach den Novemberpogromen wird die Ausreise nahezu unmöglich. Die anderen Länder schotten sich ab, wollen nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Hier schließt Boschwitz plötzlich zur Moderne auf, freilich ohne es zu wissen. Eine traurige Erkenntnis, dass wir 80 Jahre später immer noch nicht klüger geworden sind und die Angst vor Flüchtlingen in Schwärmen uns den Schlaf raubt. Dabei hat niemand es verdient, in einem Land leben zu müssen, in dem er wegen seiner Religion und seinem Glauben verfolgt wird und um sein Leben fürchten muss.