Rezension

"In jedem Menschen wohnt eine Bestie, ...

Das Floß der Medusa
von Franzobel

Bewertet mit 5 Sternen

... ein zweites Ich, rücksichtslos, brutal und ohne Hemmungen. Sobald im Schutz der Dunkelheit Moral und Konventionen abfallen, kommt das tierisch Archaische heraus, die zweite Seele in der Brust, das nur vom Instinkt getriebene Ungeheuer. Und dann geht es Mann gegen Mann."

1816 sandte die französische Regierung vier Fregatten zum Schutz der von England zurückgegebenen westafrikanischen Kolonie Senegal aus. Eines der Schiffe war die Medusa, befehligt von Kapitän Hugues Duroy de Chaumareys. An Bord befanden sich etwa 400 Menschen, neben der regulären Besatzung auch Infanteristen, Verwaltungsbeamte und Forscher sowie einige Frauen und Kinder. Schwere Navigationsfehler und Inkompetenz seitens der Schiffsführung führten zu einem der bekanntesten Schiffsunglücke während der Segelschiffzeit: Die Medusa verliert den Kontakt zum Konvoi und läuft auf der gefürchteten Arguin-Sandbank vor der westafrikanischen Küste auf Grund. Dilettantisch ausgeführte Befreiungsmanöver scheitern und der Kapitän befiehlt den Bau eines gigantischen Floßes, da die wenigen Beiboote bei Weitem nicht ausreichen, um alle Menschen an Bord zu evakuieren. 146 Männer und eine Frau sowie einige Fässer Wein finden Platz auf dem völlig überladenen Floß, das von den anderen Rettungsbooten geschleppt werden soll. Doch ein Offizier kappt das Tau und lässt das Floß navigationsunfähig zurück. Dicht gedrängt, knapp einen Meter unter Wasser ohne Nahrung und Trinkwasser treiben die Ausgesetzten 13 Tage hilflos auf dem Atlantik. Nur 15 von ihnen können schließlich von einem der Schwesternschiffe gerettet werden und nur 10 überleben letztlich.
Dies ist ihre Geschichte ...

Leseeindruck

"Aber was sind das für Geschehnisse, die der Menschheit für alle Zeit verborgen bleiben sollen? Was ist das für eine scheinbar mit einem Fluch behaftete Geschichte, die hinter diesen fünfzehn ausgemergelten Gestalten steht? Ist sie etwas für uns? Ein Versuch, den Menschen vor Gott zu rechtfertigen? Etwas Erhabenes? Erhebenes? Niederschmetterndes? Nun, das werden wir noch sehen. (...)"

Und ja, diese Frage bleibt nach der Lektüre nicht unbeantwortet, wenn auch die Antwort für jeden persönlich ein wenig anders ausfallen dürfte.
 
Franzobels für den Deutschen Buchpreis 2017 nominierter Roman "Das Floß der Medusa" beruht auf einer wahren Begebenheit und ist vor allem deshalb so faszinierend und eindringlich. Historisch belegte Tatsachen dienten dem Autor als Grundlage und er bewegt sich sehr nah an diesen, erlaubt sich nur wenige dichterische Freiheiten. Und dennoch gelingt es ihm keinen staubtrockenen Historienbericht zu verfassen, ganz im Gegenteil – dieser Roman weiß zu unterhalten und das sehr nachdrücklich. Franzobel (gebürtig Franz Stefan Griebl) ist zynisch, streut trockenen Humor ein, zieht dezente aber unübersehbare Vergleiche zur heutigen Zeit und mahnt so den Leser ganz ohne erhobenen Zeigefinger. Er hält uns einen Spiegel vor und schickt uns auf eine Reise der Erkenntnis – es ist eine beschwerliche und stellenweise beinahe unerträgliche Reise, die mich oft an die Grenzen brachte, die sich aber letztlich doch mehr als lohnt.

"Angst war ein Gefühl, das nicht mehr zu ihrer Welt gehörte, eine Realität suggerierende Phantsie, die sich nicht mehr einstellte. Wovor sollten sie noch Angst haben? Alle Angst war Realität geworden."

Seine Figuren zeichnet er messerscharf, erleichtert dem Leser das Auseinanderhalten der zahlreichen Charaktere mit signifikaten und einprägsamen, teils auch witzigen Beschreibungen, die er temporär (oft in Klammern gesetzt) wiederholt. Neben anderen zynischen und humoristischen Einschüben stellt dieser vermeintliche Witz, diese Lockerheit einen wichtigen Kontrast zum schockierenden Inhalt des Romans dar. Nur so kann man diese grausame Geschichte ertragen: Ja, greifen wir dieses naheliegende Bild doch auf – es ist  als diene der Humor dem Autor und Leser gleichermaßen als Rettungsfloß zum Schutz vor dem Ertrinken. Rettung oder Untergang? Diese Frage muss sich jeder selbst beantworten, für mich war Franzobels besondere Art des Erzählens ausschlaggebend für die immense Wirkung der Geschichte.

Generell bedient sich der Autor gern der Kontraste. Bei seinen Figuren erleben wir dies ständig. So macht sich der gockelhafte Kapitän bei der Planung der Evakuierung Gedanken um seine Schnallenschuhe und darum, wer ihn im Beiboot wohl abpudert, während die Seeleute sich Sorgen machen müssen, ob sie überhaupt einen Platz in einem der Rettungsboote erhalten werden. Die Schreckensszenarien auf dem Floß (Mord, Selbstmord, Amputation, Kannibalismus) werden wunderbaren Naturbeschreibungen gegenübergestellt. Befremdlich? Nein, ganz im Gegenteil wie ich finde. Gegensätze liegen zumeist dicht beieinander, im Leben, in der Natur, im Menschsein. Trauernde finden oft einen Rückzugsort in einem herzhaften Lachen, Glück wird nicht selten von Tränen begleitet. Dieser Roman zwingt den Leser in eine Ausnahmesituation, die nur mit solchen Mechanismen bewältigt werden kann.

Ein besonderer Kniff gelingt dem Autor mit der Erschaffung seiner fiktiven Figur Viktor Aisen: Ein abenteuerlustiger Träumer aus wohlhabenen Verhältnissen, der die Welt entdecken will und deshalb auf der Medusa anheuert. Mit ihm kann sich der Leser schnell identifizieren, auf ihn projiziert man die eigenen Hoffnungen und Ängste und mit ihm streift man dann letztlich auch die Haut der Unschuld ab. Man geht beinahe gebrochen aber geläutert aus dieser Geschichte hervor. Sie lehrt uns Demut und sie lässt uns nicht vergessen, was Menschlichkeit ist.

"Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr. Jetzt ist es also so weit, der Mensch zeigt seinen Kern, das, was sich hinter der Schminke der Moral und unter der Haut der Kultur verbirgt, das wilde Tier."

Fazit

Ein Roman, der dem Leser viel abverlangt, ihn ausgemergelt und demütig zurücklässt aber ihm auch viel gibt, so er denn bereit ist, zu lernen und zu reflektieren. Gleich dem Floß auf offener See, das den Launen der Natur schutzlos ausgesetzt ist, ist der Leser hier einem wahren Sturm der Gefühle ausgesetzt und doch bleibt viel nach der Lektüre: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.

Kommentare

katzenminze kommentierte am 15. Oktober 2017 um 17:12

Sehr schön! Schöne Zitate hast du da rasugesucht. Ich bin ja echt froh, dass er uns allen so gut gefiel! ^.^

yvy kommentierte am 15. Oktober 2017 um 21:14

Danke dir. Ja ein guter Schnitt in der Bewertung bisher in unserer Leserunde. Finde ich super.

wandagreen kommentierte am 15. Oktober 2017 um 22:17

Wie auch in der Leserunde schon gezeigt, sehr durchdachte Beschreibungen und gut beobachtete Szenen führen zu einer sehr guten Rezension. Wahrhaftig lesenswert!

yvy kommentierte am 16. Oktober 2017 um 13:21

Vielen Dank, Wanda. :)