Rezension

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In wieweit läßt sich das Herz manipulieren?

Herzenskälte - Saskia Berwein

Herzenskälte
von Saskia Berwein

Bewertet mit 3.5 Sternen

solider Thriller um dunkle seelische Abgründe, die Gefühlswelt, Einblicke in eine morbide Subkultur der schwarzen Szene und Lobotomie

HERZENSKÄLTE (2014) ist der 2.Band aus der mittlerweile 5 Teile umfassenden Thriller-Fortsetzungsreihe "Ein Fall für Leitner & Grohmann". Er umfaßt ca. 410 Seiten in 20 Kapiteln. Vormals bei Egmont LYX  erschienen werden künftig alle Bände im Kuneli-Verlag aufgelegt werden. I.Ü.  ein ungewöhnlicher Name, der abgewandelt wurde vom  griech. "kouneli" =  Kaninchen, geliebte Haustiere der Autorin. Ach wie gerne hätte ich ein Verstecktes beim Lesen entdeckt...

 

+++ zum INHALT – Spoiler möglich --

In einer fiktiven, beschaulichen Kleinstadt im hessischen Spessart, Nähe Hanau:

Am Valentinstag wird eine kürzlich verheiratete Frau in sorgfältig liebevollem Arrangement und perfektem Styling in einem Schaufenster einer Hochzeitsagentur entdeckt – erst auf den zweiten Blick wird ersichtlich: ermordet und... ihr Herz wurde entnommen.

Die nicht immer umgängliche und unkonventionelle Kriminaloberkommissarin JENNIFER Leitner übernimmt zusammen mit dem ruhigen, besonnenen, doch Schreibtischarbeit ächtenden Staatsanwalt OLIVER Grohmann den Fall. Ein weiterer Mord nach bereits 5 Tagen an einem Mann in komplett anderem und brutalen Szenario, übersäht mit Haßbotschaften auf der Haut und wieder ohne Herz, bestätigt Jennifer, ihre bisherige Taktik und Annahme zu ändern:  jetzt wird von einem Ritus, einer gezielten Vorgehensweise mit Muster in der Opferwahl, ausgegangen. Damit ist mit einer aufziehenden Mordserie zu rechnen. Jedoch besteht keinerlei Verbindung zwischen den Toten.

Wird das Ermittlungs-Duo dann überhaupt rechtzeitig den Täter aufspüren können?

Warum sollte der Killer, oder Mörder-Kreis, die Herz-Organe für die Ewigkeit konservieren?

Sind diese Zurschaustellungen der Leichen eine Botschaft? an wen richten sie sich dann?

Als Grohmanns Tochter Hannah durch eine ominöse Schulkollegin in Kontakt mit einer morbiden Subkultur der schwarzen Szene kommt, lernt sie deren gothic-artigen Organisator Jesaja/Tobias samt seiner schwermütigen Schwester Jezebel/Selina kennen, die faszinierend wie gleichzeitig verstörend-düstere Kunstwerke schafft. Eine irritierende Anziehungskraft entwickelt Hannah für Jesaja, nicht für Tobias. Ist dieser Schauplatz wieder nur Sackgasse?

 

+++ MEINUNG:

Gewicht fällt auf ausführliche Darlegung der einzelnen Schritte im Ablauf zur Polizeiarbeit des Morddezernates. Dadurch mag der Kriminalroman eine der Realität ziemlich nahekommende Relevanz gewinnen und schon Alltag des Kriminalkommissariats authentisch abbilden, verschenkt damit allerdings Tempo und v.a. Raum für weiteren Ausbau und zusätzliche psychologische Tiefe. Ebenso schweift der tatsächliche Thriller-Kern, der eher neuartig, interessant bis fesselnd und schlüssig aufgearbeitet ist, leicht ins Abseits. Nur im Prolog und Kapitel 16 gewinnt der Leser einmal kurzen Blick in die intime Denkweise des Delinquenten.

Abgelenkt und etwas schleppend gestaltet sich die Untersuchung bis zu einem zweiten Mord. Erst als sich ein Anwalt mit gewissen Unterlagen bei dem Ermittlerteam meldet, nehmen die Ermittlungen an rabiderer Fahrt auf und die Mutmaßungen des Psychopathologen (Dr. Rabe) skizzieren sich in Komplexität ab.

Obwohl vornehmlich und rund um die Uhr am Fall mit einem weiteren Ermordeten gearbeitet wird, versteht Saskia Berwein zartfühlend unterrangig auszuarbeiten, wie währenddessen sich Jennifer und Oliver, beide geschieden, auch privat langsam annähern. Hierbei wird zu deren persönlichem Hintergrund und etwas aus den Viten der beiden erzählt, was die zwei tragenden Protagonisten für den Leser greifbarer ausgestaltet.

Somit eher ruhig und solide im Spannungsbogen mit wiederum auch intensiveren und gedichteteren Abschnitten.

 

+++  KRITIK: -- Spoilerwarnung --

Parallel zur Kriminalhandlung kreuzt Hannah bei Oliver auf - seine 16jährige Tochter, mit der er seit 4 Jahren keinen Kontakt mehr hegte. Doch mit einer freudigen Umarmung wird sie von ihrem Vater nicht empfangen; den erwachsenen Mann [wie alt ist er - um die 40 aufwärts?] umtreiben im Stillen nachtragende Vorwürfen an die damals 12-Jährige(!), ihn (verbal) verletzt zu haben. Über diese Gesinnung eines Elternteils(!) bleibt auch, oder gerade, nach späterer Auflösung zum Warum der Leser kopfschüttelnd zurück. Tragisch, daß mit Mitte des Buches immer noch ein ‚Sich-Öffnen‘ zwischen Vater und Tochter gehemmt bleibt, er nicht weiß, wie er mit ihr umgehen soll und wie es gefühlsmäßig um seine Tochter bestellt ist. Zu welchen Konsequenzen, trotz gedruckster Aussprache, fehlende Bemühungen und wirkliche Kommunikation führen können...

Die zerstörte Vater-Tochter-Beziehung taut nur zögerlich auf, ist sehr lange durchfrostet von HERZENSKÄLTE – dieser Buchtitel durchschwingt als fulminanter Schwerpunkt das gesamte Buch. Einerseits scheint der Serienkiller diese bezwingen zu wollen, hebt sich aber durch absolute eiskalte Gleichgültigkeit ab, andererseits z.B. ‚bemüht‘ sich Jennifer Leitners dienstunfähiger KOK-Polizeipartner Marcel Meyer regelrecht darum, sucht, zuviele Emotionen seit seinem Ehe-Aus mittels Alkoholexzess auszumerzen? (Letzterer scheint zu einer, hier vernachlässigbaren, Rahmenhandlung der Reihe zu gehören, da für Quereinsteiger nicht ganz ersichtlich wird, inwiefern dieser Einschub dienlich sei. Vielleicht sollte damit lediglich die kollegiale zugleich verantwortungsvolle Wesensart Jennifers belichtet werden. Oder simpel, daß Alkoholsucht nicht nur den Menschen sondern polizeiliche Arbeit vernichten kann.)

Erst überraschte und beeindruckte Olivers Sprößling mit ihrer taffen und durchsetzenden Art, bei ihrem Papa unangemeldet einzuziehen, ihn vor faits accomplis zu stellen, mit ultracool durchdachter und zukunftsorientierter Planung, klasse! Allerdings mit ihrem Auftreten, daß sie sich ab und zu JOINTs genehmigt und das vollkommen okay ist, verliert sie total wieder an selbstständigen Charakter, da sie sich ja noch dazu einem, um es generell auszudrücken, ‚Gruppenzwang‘ unterwirft, indem sie sich im weiteren Verlauf der Handlung einem bedeutenden, einschneidenden Akt und damit viel Schmerz entziehen hätte können. Die seltsam-reglementierte Zustimmung ihres eigenen Vaters zu dieser ihrer Haltung, noch dazu in seiner beruflichen Stellung als erfahrener Staatsanwalt, enttäuschte oder ist einfach nur merkwürdig: sollte denn nicht die Gesundheit seiner Tochter ihm am Herzen liegen! Es handelt sich doch keineswegs um Süßigkeiten (diese Genussmittel sind schlimm genug, können auch schon süchtig u. krank machen); warum das Bedürfnis nach Pot – als Stimmungsaufheller, um Gefühle zu betäuben, Konflikten zu entrinnen, Realitäts/Trauer-Flucht? Und, woher bezieht Hannah ihr Gras?, welches so häufig mit giftigen Stoffen gestreckt wird, mit welchen Leuten pflegt sie Umgang... all das interessiert den Vater da nicht. Und gerade hier (wer sind ihre Freunde) wäre ein Aufmerken des Staatsanwaltes und sein die Tochter in-Kenntnis-zu-setzen, über vorliegende Fakten, von solcher Eminenz gewesen. Dazu entsetzte auch das Gefasel der Kommissarin von ~‘Verbote-bringen-nichts‘ - denn es geht um ausführliche Gespräche, die sehr wohl die Augen schärfen können für womöglich aufschlussreiche Beobachtungen: hätte Hannah von den entscheidenden Infos, die dem Chefermittler vorlagen, gewußt, hätte sie Vorsicht walten lassen, eher ihrem Instinkt folgen, etwas durchschauen, andere warnen und sogar selbst einem Kriminellen raffiniert das Handwerk legen können.

 

Noch weitere Anmerkung zu dieser Nebenpassage: -- SPOILER --

Daß mal wieder Verlust von Jungfräulichkeit im gedopten Bewußtseinszustand erfolgt, als Abwechslung zu k.o.-Tropfen, schleicht sich als mittlerweile läufige Praxis in sehr viele Bücher ein (Bsp.: Chevy Stevens, 2017: Never let you go - Ich beobachte Dich). Cannabis findet einen zu verharmlosten Stellenwert, wird völlig widerspruchs- wie kritiklos als absolut vertret- und täglich verwendbar eingestuft (siehe auch in viel zu vielen NA-Romanen, im Sinne von ‚es ist halt Mainstream, gibt ja auch Weed-Parties, in immer mehr US-Bundesstaaten erlaubt, ist doch nichts dabei‘). Hier hätte ich mir Mut von der Autorin gewünscht, etwa in einem Satz dem Marihuana-Schmauchen seine Konsum-Selbstverständlichkeit zu nehmen, v.a. weil es sich hier um Jugendliche und keine Schmerzpatienten handelt. Oder wenigstens eine neutrale Parteilosigkeit zu vermitteln, um einer Debatte zum Thema ‚Kiffen legalisieren‘ offenes Podium hinsichtl. der Bedenklichkeit und Bedrohlichkeit zu lassen (gute Laune nur mehr per grünem Rausch, Gedächtnisleistungen nehmen ab, Gehirnstrukturen verändern sich nachweislich, Intelligenzminderung ist gegeben, auch eine Gefährlichkeit des Kontroll-Verlustes wie das Abgleiten in die Abhängigkeit sind vorhanden, Einweisung in die Suchtklinik zunehmend die Folge; aber genauso arten selbtverständlich Alkohol, Sex, Essen, Games, Wettspiele, usw.usf. zu oft in Suchtproblematik aus).

+++

Schleichwerbung für Nutella ist nicht gut, z.B. steht ferrero für Kinderarbeit, ausbeuterischen Arbeitsbedingungen auf Hasselnussplantagen. (Dann eher allgemein bleiben, mit z.B. NougatSchokoaufstrich.)

Beim Fluchen bitte nicht ständige Wiederholungen, sondern Abwechslung!

Wie alt sind KOK Leitner und der Chefermittler Grohmann?

Wer ist Gaja? Jennifer Leitners Katze?!

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F A Z I T :

Einiges etwas straffer, anderes nicht zu oberflächlich und einfach ausführlicher, tiefgehender – das hätte die volle Punktzahl gebracht.

Lesenswert, da dieser Thriller zum Nachdenken anregen kann, etwa: Ohne die Fähigkeit Emotionen zu entwickeln erfolgt Entfaltung zum Monster, welches anderen deren Gefühle stiehlt, oder, diese ausbeuterisch manipuliert. Wenn in einem nur mehr Leere herrscht, ist man dann nicht schon tot?                        Anbei: Benebelung statt sich Gefühlen zu stellen, sich mit ihnen auseinander zu setzen.                                                                                                          Verlust der Emotionalität, teilnahmslose Ungerührtheit, kurz: HERZENSKÄLTE führen zu welchen Auswirkungen...

Bewertung: 3,5 von 5 Sternen