Rezension

Informativ, spannend, berührend und mitreißend...

Schatten der Welt - Andreas Izquierdo

Schatten der Welt
von Andreas Izquierdo

Bewertet mit 5 Sternen

Ein anderer Izquierdo, der in die Zeit vor und während des 1. Weltkrieges entführt. Informativ, spannend, berührend und mitreißend. Lesen!

In Thorn, einer Militärstadt, gehen die Uhren 1910 noch anders. Nahe der Grenze zu Polen dauert es lange, bis Fortschrittliches oder auch weltpolitische Ereignisse ihren Weg in die abseits gelegene Stadt in Westpreußen finden. In einer Atmosphäre althergebrachter Strukturen wachsen die Jugendlichen Carl, Artur und Isi auf und nichts deutet darauf hin, dass sich daran so bald etwas ändern wird.

Zu Beginn der Erzählung ist Carl 13 Jahre alt und lebt mit seinem alleinerziehenden Vater in einem winzigen Häuschen, das ihnen Wohn- und Arbeitsstätte zugleich ist. Dort gelangen allabendlich Kartoffeln auf den Küchentisch, gleichzeitig werden in der winzigen Stube Kunden empfangen, die sich vom Schneider Friedländer ein neues Gewand fertigen lassen wollen. Reich werden sie dabei nicht, zumal sie als Juden misstrauisch beäugt werden, aber irgendwie haben sie ihr Auskommen.

Carl geht gerne zur Schule, doch schon in wenigen Wochen ist damit Schluss, denn das Realgymnasium kann sich der Vater nicht leisten. Mit ihm zur Schule geht Artur, der vierzehnjährige Sohn eines Wagners und bester Freund von Carl. Gegensätzlicher könnten die beiden nicht sein: Carl schmächtig und schüchtern, dabei gut in der Schule - Artur kräftig und voller Selbstbewusstsein, doch mit der Schule hat er kaum etwas am Hut.

Als die beiden die Tochter des ortsansässigen Lehrers der Mädchenschule kennenlernen, ist gleich klar, dass Luise, genannt Isi, bestens zu ihnen passt. Dreist und unerschrocken trotzt sie den widrigen häuslichen Verhältnissen, ebenso wie Artur. Nur Carl hat zu seinem Vater ein liebevolles Verhältnis. 

 

"Männer wie ihr Vater regierten Thorn, sie regierten Preußen, das Deutsche Reich, die ganze Welt. Sie bestimmten die Regeln, die Religion, die Politik, verfälschten Tatsachen, machten Karriere, und wenn gar nichts mehr half, begannen sie Kriege und stürzten die Welt ins Chaos..." (S. 415)

 

Artur und Isi überbieten sich in ihren verrückten Ideen, und Carl, eher erschrocken denn überzeugt, lässt sich ein ums andere Mal von den beiden mitziehen. Wichtig ist es den dreien, schnellstmöglich viel Geld zu verdienen, um eines Tages auf eigenen Füßen zu stehen.

Die Ereignisse um das Erwachsenwerden der drei Jugendlichen wird aus der Ich-Perspektive von Carl erzählt. Dabei dominiert bereits in der vermeintlich schönen Jugendzeit ein oftmals melancholischer Ton. Die armseligen Lebensbedingungen, die Dominanz des Militärs im Stadtbild, die Vergeblichkeit von Lebensträumen, der Standesdünkel, der Judenhass, der selbstherrliche und willkürliche Umgang der Mächtigen (ob nun Gutsherr, Gendarmeriekommandant oder tyrannischer Vater) mit den Schwächeren oder schlechter Gestellten - all dies erlebt der Leser emotional dicht am Geschehen mit. 

Glücklicherweise retten schlitzohrige Aktionen und die freche Dreistigkeit der drei Hauptcharaktere die Erzählung vor zu viel Schwere. Mit Beginn des Krieges allerdings wird der Ton ernster, und fortan wird das Geschehen abwechselnd aus der Perspektive der drei nun getrennt lebenden Freunde erzählt. Jeder der drei kämpft mit schweren Verlusten und letztlich auch einem Gefühl der Schuld, was angesichts der Ereignisse wohl unvermeidlich ist. Eine harte, brutale Art, erwachsen zu werden.

Ich habe bereits mehrere Bücher von Andreas Izquierdo gelesen, und so unterschiedlich die Themen auch waren, eines hat sie geeint: der Faktor 'Menschlichkeit'. Auch in diesem historischen Roman, dem eine akribische und detaillierte Recherche attestiert werden muss, stehen die Charaktere im Vordergrund. Durch seine einfühlsame Art zu schreiben, schafft Izquierdo einen emotional dichten Zugang zu seinen Figuren, so dass der Leser zwangsläufig mitdenkt, mitempfindet, mitleidet.

Dies war für mich nicht immer leicht zu ertragen. Wer Ungerechtigkeiten, Willkür und Menschenverachtung nicht gut aushält, der sei hiermit gewarnt. Immer wieder musste ich das Buch zwischendurch zur Seite legen, um Wut und Rachegelüste runterkochen zu lassen, bevor ich weiterlesen konnte. Gleichzeitig ist es genau das, was den Roman zu etwas Besonderem macht. Kriegsgräuel sind furchtbar, schon allein, wenn man darüber liest. Wenn man aber wie hier, daran auch emotional beteiligt ist, stehen diese Gräuel in ihrer ganzen Entsetzlichkeit vor einem und lassen den Leser an den monströsen Geschehnissen geradezu teilhaben.

 

"...und der Tod begegnete mir allenfalls als friedliches weißes Kruzifix auf einem sonnenbeschienenen Friedhof. Doch unter dieser Erde lagen das zerrissene Fleisch, die gebrochenen Knochen und zerstörten Seelen. Unter dem Heldenkreuz verfaulte eine ganze Generation, deren Hoffnungen und sprühender Optimismus von alten Männern zu Angst, Ekel und Entsetzen verwandelt worden waren." (S. 484)

 

Der Blick auf die damaligen Ereignisse ist ungeschönt und detailliert, und die damit verbundenen Traumata geradezu greifbar. Das Ende - es kann kein Happy End sein, das würde nicht passen. Aber doch bietet es einen kleinen hoffnungsvollen Ausblick, eine Möglickeit des Weiterlebens, trotz alledem.  

Und wie der Autor verriet: es wird einen zweiten Teil geben, frühestens im Herbst 2021 - die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sehr schön. Denn Carl, Artur und Isi würde ich sehr gerne nocht einmal begegnen...

 

© Parden