Rezension

Insel Ventotene

Ohne Halt ins Blaue -

Ohne Halt ins Blaue
von Anna Pavignano

Bewertet mit 5 Sternen

Poesie der Armut

Die Filmfrau und Autorin Anna Pavignano schreibt einen Roman, der zwar „ihrer Fantasie entspringt“, doch der Realität entspricht. Denn es gibt sie, diese jungen Leute (junge Männer), „die ein Leben führen, das eine Sommer- und eine Winterseite hat, wie eine Matratze.“ Einerseits leben sie am Meer (auf ihrer kleinen Insel), andererseits auf Baustellen auf dem Festland, wo sie unter ausbeuterischen Umständen arbeiten. „Das Meer ist blau, der Ziegelstein ist rot. Die Wellen machen Schaum, der Kalk Blasen. Im Sommer scheint die Sonne, und es ist heiß. Im Winter scheint auch die Sonne, aber es ist kälter. Meine Insel ist ein hingespucktes Stück schwarze Erde mitten im Meer (vulkanisch), und zum Glück sind die Häuser rosa und gelb, denn wenn ich zurückkomme – vor allem wenn ich lange weg war zum Arbeiten -, machen sie mich schon von weitem froh. Mein Boot ist weiß und blau, und ich hab es selber angestrichen...“ Genau, die Inselchen haben ein farbenprächtiges Erscheinungsbild, wenn man vom Meer her kommt. Als ob die Bewohner gegen die Kargheit der Insel ein farbenprächtiges Fanal setzen wollten...

Schon der Anfang zeigt wortgewaltig – mit einfachen Worten - eine Realität, von der man meinen könnte, sie existiere so nicht mehr. Zumindest in Europa. Es erinnert an ‚Christus kam nur bis Eboli‘, von Louis Levi. Vom kargen Leben auf Inseln, in ärmeren Landstrichen Italiens, abseits der großen Metropolen, wo die Menschen eine Existenz führen, die zuerst einmal malerisch auf Touristen wirkt. Sie müssen nicht Tag für Tag dort leben. Für sie ist es Abenteuer, Erholung, Auszeit. Doch diejenigen, die da leben, wollen es vielleicht nicht anders, oder wenn, dann können sie nicht so einfach weg... für sie ist es Heimat. Ihre Heimat. Sie leben mit der rauen Natur, dem wilden Meer, das ihnen ihren Lebensunterhalt sichert, aber auch leicht das Leben nimmt. Und doch gehen viele weg, weil sie keine Lebensgrundlage auf der Insel finden. Die Anzahl der Inselbewohner nimmt ab. (Diese ‚andere Realität‘ existiert auch in der Schweiz auf den Almen, selbst in den Schwarzwaldbergen, wo Naturgewalten einen anderen – realistischen – Blick auf das Leben bieten; ist nicht die ‚Realität in den Metropolen‘ die Unwirkliche?) Der Tourismus bringt Geld in diese ‚verlassene Einöde‘.

Salvatore erzählt von seinem Leben auf der Insel und wie er Bootsführer wurde: Kaum war ich sechzehn, hab ich den Bootsführer-schein gemacht und ein schönes Schild an mein Boot gehängt, auf dem stand: ‚Willst du aufs Meer? Zu jeder Zeit steht Salvatore für dich bereit. Tag- und Nachtfahrten.‘ Denn auf den kleinen Inseln passiert nicht viel. Das Leben ist abhängig vom Meer. Und den Touristen, vor allem den weiblichen. Und so ergeben sich auch die kleinen Fluchten aus dem Alltag. Doch Salvatore verliebt sich (nicht standesgemäß… erinnert an den Roman ‚Salz auf unserer Haut‘, der bretonische Fischer und die Pariserin).

Freundschaft, Liebe, Lebensfreude - Lebensleid, das Leben mit der Natur und ihren Risiken. Das ist das realistische Italien und nicht das Bild, was sich viele Tourist:innen von dem Land machen. Wer leise Zwischentöne mag, ist mit dem Buch gut aufgehoben! Die ‚Poesie der Armut‘ wird hier noch drastischer ausgedrückt.

Autorin Anna Pavignano stammt aus der Provinz Novara im Norden, wurde als eine der Drehbuchautor:innen des Films ‚Il Postino‘ (Der Postmann, Regie Michael Radford) durch seine Oscar-Nominierung weltbekannt; Massimo Troisi spielte in ‚Il Postino‘ die Hauptrolle, er verfilmte Drehbücher von Pavignano als Regisseur und Hauptdarsteller. Pavignano und Troisi verband eine intensive Liebesbeziehung bis zu Troisis frühen Tod, seinen Tod verarbeitet sie in dem Buch: ‚da domani mi alzo tardi‘. Seit 2007 ist Pavignano auch als Schriftstellerin tätig. ‚Ohne Halt ins Blaue‘ (il bilico sul mare) ist ihr zweiter Roman und erschien 2009 bei edizioni e/o.

https://www.youtube.com/watch?v=eCHvc9tdYrQ Verfilmt als ‚Sul Mare‘, 2010. https://nonsoloverlag.de/

‚Ohne Halt ins Blaue‘, in deutscher Übersetzung beim Verlag Nonsolo, Freiburg, Mai 2021 erschienen, 152 Seiten, übersetzt von

Ruth Mader-Koltay