Rezension

intensiv recherchiert

Fräulein Nettes kurzer Sommer - Karen Duve

Fräulein Nettes kurzer Sommer
von Karen Duve

Bewertet mit 4.5 Sternen

In "Fräulein Nettes kurzer Sommer" kann mal als Leser das Freifräulein Anna Elisabeth von Droste zu Hülshoff, genannt Annette, oder noch kürzer, Nette, in den Jahren 1817 bis 1821 vor dem geschichtlichen Hintergrund der Zeit kurz nach dem Wiener Kongress begleiten. Die Droste zu Hülshoffs sind eng verwandt mit der Familie von Haxthausen, auf deren Stammsitz, dem Bökerhof, Annette 1820 viel Zeit verbringt. Auf dem Bökerhof trifft Annette auch Heinreich Straube, der von ihrem Onkel August (der gerade mal 5 Jahre älter ist als Annette) als Gast mitgebracht wird. Straube und August studieren zusammen in Göttingen, jedoch ist Straube nahezu mittellos. August lässt ihn auch in Göttingen bei sich wohnen und unterstützt ihn auch finanziell.

Weder Straube noch Annette werden im Roman als äußerlich attraktiv beschrieben, finden aber über die Dichtung eine gemeinsame Ebene. Straube selbst wird von August als Genie angesehen - die Dichtung seiner Nichte lehnt er aber grundsätzlich ab, da dieses "zur Schau stellen" eines Freifräuleins nicht würdig ist - wodurch Annette regelmäßig aneckt. Da auch die Beziehung Annettes zu Straube nicht standesgemäß ist, versucht man auf dem Bökerhof nun einiges, die beiden auseinanderzubringen.

Ebenfalls häufiger zu Gast auf dem Bökerhof sind Ludwig und Wilhelm Grimm (die Familie Grimm, einschließlich Jacob, wird dann auch am Anfang des Romans in Kassel besucht). Hier gibt es eine schöne Überschneidung zum Roman "Grimms Morde" von Tanja Kinkel, auch wenn diese die zeitliche Abfolge der Ereignisse veränderte.

Der Roman ist sprachlich der Zeit angepasst, in der er spielt, da Karen Duve Redewendungen aus den überlieferten Briefen der Familie nahtlos in den Roman eingebaut hat. Dadurch liest sich die Geschichte vielleicht nicht ganz so flüssig wie in modernerem Deutsch, man taucht aber um so besser in die beschriebene Zeit ein. Und da der Roman nicht nur aus Annettes Perspektive geschrieben ist, sondern auch z.B. das Göttinger Studentenleben aus Augusts und Straubes Sicht mit aufnimmt, vermittelt der Roman auch einen guten Einblick in die politischen Geschehnisse der damaligen Zeit, insbesondere das Selbstverständnis des Adels und die Beziehung zum aufstrebenden Bürgertum. 

Klare Leseempfehlung für Münsterländer und alle anderen, die sich für deutsche Geschichte nach dem Wiener Kongress interessieren.

Zum Abschluss noch ein Zitat:

"Und die Idee von der Gleichheit aller Männer vor dem Gesetz?" "Verdorbenes, welsches Zeug. Scheiße. Man muss dem Zeitgeist die Stirn bieten. Die Welt ist von Gott geordnet, und zwar so, dass der eine über dem anderen steht. Und das gilt es zu erhalten."[..]

"Es scheint in der Natur der Sache zu liegen, dass eine Fremdherrschaft von den Unterworfenen immer nur als Zerstörung der bewährten Ordnung empfunden werden kann."