Rezension

Intensive und packende bildhafte Naturbeschreibungen

Tiger
von Polly Clark

Bewertet mit 4 Sternen

Polly Clark begann sich während ihrer Arbeit als Wärterin im Edinburgher Zoo für den vom Aussterben bedrohten Sibirischen Tiger zu interessieren. Für die Recherchen zu ihrem Roman „Tiger“ reiste sie in die russische Taiga, wo sie im tiefsten Winter bei Temperaturen von -35° C lernte, wie man die Spur eines Tigers verfolgt. Das machte mich neugierig und ich war gespannt darauf, mehr über diese Spezies zu erfahren.

Der Roman „Tiger“ von Polly Clark besteht aus drei großen Handlungssträngen, in die man als Leser unvermittelt hineingeworfen wird und über lange Lesestrecken hinweg keinen anderen Zusammenhang erkennen kann, als das in ihnen als verbindendes Element Tiger vorkommen.

Der erste Teil handelt von der dreiunddreißigjährigen englischen Primatenforscherin Frieda, die durch ihre Drogenabhängigkeit ihren Arbeitsplatz verliert. Als sie nach einiger Zeit in einem kleinen Zoo in Devon unterkommt, ist sie plötzlich für die Tiger verantwortlich. Für sie waren Tiger bislang nichts als wilde Tiere, roh und aggressiv. Doch nach und nach beginnt sie sich für das Wesen der Tiger zu interessieren; dann, sie zu verstehen, und schließlich sie zu lieben. Außerdem trifft sie dort auf Gabriel, einen widerlichen Unsympathen, der aus mir unerfindlichen Gründen Gefühle in ihr hervorruft. Und genau das wäre eigentlich für mich der Zeitpunkt gewesen die Augen entnervt zu verdrehen und das Buch abzubrechen, weil mich diese Geschichten vom unnahbaren Badboy einfach schon seit langem nicht mehr reizen. Aber Polly Clark ist es durch den Prolog und im Laufe dieses ersten Teils bereits gelungen mich durch ihre bildhaften Naturbeschreibungen und das gekonnte Erzeugen von Stimmungen und Spannungen im Zusammenhang mit den Tigern so für dieses Buch einzunehmen, dass ich es unmöglich aus der Hand legen konnte. Und das war gut so.

Denn mit diesen Raubkatzen habe ich mich bisher nicht genauer beschäftigt und so gibt es neben der fesselnden Atmosphäre für mich viel Interessantes über diese Tiere, aber auch über die russische Taiga zu erfahren. Tatsächlich bin ich allerdings auch froh, als der erste Teil des Buches abrupt endet und mich von der unsympathischen Frieda, deren Geschichte mich nicht packen kann und deren Handeln ich als verantwortungslos und übel konstruiert empfinde, befreit. Der zweite Teil spielt nicht mehr in Großbritannien, sondern in der russischen Taiga und nimmt mit zu Tomas in ein Tigerschutz-Reservat und im dritten Teil lernen wir dort Edit kennen, die dem indigenen Volk der Udehe entstammt und sich mit ihrer Tochter Sina für ein abgeschiedenes sehr naturnahes Leben im Wald entscheidet. Zum Ende setzt sich schließlich alles zu einem großen Ganzen zusammen – man erfährt die Zusammenhänge und was die einzelnen Protagonisten miteinander verbindet.

Die Art, wie diese Geschichte erzählt ist, wirkt dabei insgesamt etwas holprig und nimmt in fast schon zu viele menschliche Abgründe mit, die ich in diesem Buch nicht unbedingt gebraucht hätte. Denn wenn Polly Clark die Natur beschreibt und die Leser mit auf die Pirsch nimmt um an der atemberaubenden Schönheit und Gefährlichkeit der ausgewachsenen Tiger teilhaben zu lassen, ist das so beeindruckend und atmosphärisch, als wäre man in unmittelbarer Nähe dieser majestätischen Tiere. Dabei lässt sie die Leser sogar an einigen Stellen wohldosiert und überaus gelungen die Welt aus den Augen des Tigers erleben. Das geschieht sehr eindrucksvoll und ohne dabei in kitschige Vermenschlichung zu verfallen. Auch gelingt es ihr, dass man die eindringlich geschilderte sibirische Kälte ebenso wie den Kampf ums Überleben in der unwirtlichen Umgebung fast schon am eigenen Leibe spüren kann.

„Tiger“ von Polly Clark ist ein intensives und packendes Leseerlebnis, wenn man die Geschichte rund um Frieda, die im vierten Teil des Buches nochmal aufgegriffen wird, ausblenden kann.