Rezension

Intensiver, eindrucksvoller Roman einer Lebensanalyse.

In einem anderen Leben - Linus Reichlin

In einem anderen Leben
von Linus Reichlin

Bewertet mit 4 Sternen

Schicksalhafte Lebenszwänge.

"Man kann nicht auf dem neuen Schiff die Segel hissen, wenn am Ufer jemand steht und ruft, erinnerst du dich noch, wie du letztes Mal gekentert bist?“

So war es auch Luis Maiwald nicht vergönnt, Altes hinter sich zu lassen, zu neuen Ufern zu gelangen und sein Herz unbefangen dem Lichten zu öffnen, nachdem die langen Jahre seiner Kindheit es in Schatten und Verzweiflung gehüllt hatten.

Die Ehe seiner Eltern, die dem Einzelkind Vertrauen und Geborgenheit hätte bieten sollen, war von Unruhe, Streit,Vorwürfen und Verantwortungslosigkeit geprägt. Das glamouröse Parallel-Leben, das sie beide in ihren Träumen führten, das aus ihnen Richard Burton und Elisabeth Taylor machte, scheiterte an der engen, für sie nahezu unerträglichen Realität. Die impulsive, unbeherrschte Beziehung, welche Höhen und Tiefen des weltberühmten Traumpaares bestimmt hatte, war das Einzige, was mit dem Leben der Eltern übereinstimmte, ihre lautstarken Auseinandersetzungen folgten dem Kind bei Tag und Nacht, brachten Furcht wo Sicherheit hätte sein müssen, schufen Albträume wo sonst die Ruhe eines behüteten Kinderlebens geherrscht hätte, und ihre Alkoholexzesse ängstigten und verstörten Linus über Jahre.

Bis eines Tages eine unvorhergesehene Wende sein Leben von Grund auf veränderte.

Seine Mutter wurde nach einem Unfall mit ihrem Wagen gelähmt und hilflos nachhause gebracht, kein Wort kam mehr über ihre Lippen und eigentlich lebten nur noch ihre Augen. Und die waren es auch, die eine unerklärliche Verbindung zu einem Ölgemälde hielten, das seitlich über ihr an der Wand hing. Es war das Werk des holländischen Künstlers „Jan van Os“ und hieß „Winterliche Landschaft“ - ein Bild, das sie nie gemocht hatte, seit ihr Mann es vor langer Zeit als Wertanlage gekauft hatte – und nun schien es, als hänge ihr Leben davon ab. Aber Linus Vater brauchte Geld, viel Geld, denn in seinem kostspieligen Leben musste nicht nur der reichlich benötigte Alkohol bezahlt werden, den er in seinem „Miller Chair“ zu sich nahm. Sein Entschluss, das Gemälde zu veräußern, würde für die Mutter lebensbedrohlich sein, das spürte Linus und suchte mit ungewöhnlichen Mitteln nach einem Ausweg.

„In einem anderen Leben“ ist ein eindrucksvolles Werk des Autors, das eine Vielfalt von Gedanken in mir geweckt hat. Wie viele „andere Leben“ gibt es eigentlich? Leben wir nicht alle irgendwie in einem Leben, das anders ist? Es ist vielleicht anders als wir es uns gewünscht haben, deshalb anders, weil seine Möglichkeiten und Regeln in unserer eigenen Vergangenheit geboren wurden und wir auf der Flucht davor sind, oder es läuft in Bahnen, die der Realität geschuldet sind und Wünsche und Neigungen missachten. Vielleicht merken wir auch nach einer Zeit nicht mehr, dass wir in einem „anderen“ und nicht unserem „eigenen“ Leben Heimat gefunden haben, wo nur noch hin und wieder Zweifel aufkeimt, ob es eigentlich so sein sollte.

Linus Reichlin schreibt seinen Roman in der Ich-Form, so dass man recht intensiv etwas Biographisches dadurch empfindet. So wird auch über weite Strecken die Erzählung zur Selbstanalyse, zur Aufarbeitung der eigenen Befindlichkeiten, zur immer wiederkehrenden Selbstreflexion, was den Leser meiner Meinung nach in die Position eines Psychologen drängt, dem – ganz lapidar gesagt – „Seelenmüll“ vor die Füße gekippt wird. Das schmälert meines Erachtens nach die Wertigkeit der Geschichte. Reichlin verwöhnt allerdings in gewohnter Manier den Leser mit seiner angenehmen Sprache und interessanten Protagonisten, mit klugen Gedanken und einer Intelligenz, die sich teilweise sogar recht humorvoll zeigt.

Den Spuren dieses Jungen zu folgen, in dessen Leben schon so früh statt Liebe und Wärme Egoismus und Verantwortungslosigkeit eine führende Rolle gespielt haben, ist erschreckend authentisch und beschäftigt die Gedanken, auch das ist ein maßgeblicher Eindruck, den das Buch bei mir hinterlässt.

Auf alle Fälle ist dieser Roman interessante Lektüre.